15 August 2017

Ich, ohne Führerschein

"Georg: Man sitzt in einer Blase und hört nichts außer diesem angenehmen Schnurren.
Inga: Wunderschön. Beruhigend. Alles Störende bleibt draußen. Gott, ist das hier häßlich.
Beide lauschen.
Inga: Das nennt sich Psychoakustik. Damit sind Tausende von deutschen Ingenieuren beschäftigt, deswegen sind die Autos auch so teuer. Und wenn dann einer kommt und sich so ein teures Auto kauft, dann will er sein neues Exoskelett natürlich auch schön ausfahren ... Deswegen gibt es auf der Autobahn keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Todesrasen ist ja nur in Deutschland erlaubt, damit alle denken, sie seien – frei.
Georg: ... ich hab Hunger."

An diesen Dialog aus Finsterworld denke ich immer öfter abseits einer Autobahn, wenn 700 PS starke Fahrzeuge in Dreißigerzonen voll ausgefahren werden und ich Angst erfüllt flach an einer Häuserwand klebe und versuche in die Schutz spendende Einbuchtung zu gelangen, die zum Eingang führt. Wenn mich das Geräusch eines heranschnellenden SUVs dazu bringt, hinter einer Hecke am Straßenrand Schutz zu suchen. Wenn ich während der Hass getriebenen Hauptverkehrszeit an einer Straßenkreuzung stehe und vor dem Überqueren noch schnell verschiedene Unfallszenarien in meinem Kopf durchspiele, um doch noch die rettende Bewegung zu eruieren, die schützende Lücke zwischen Metall und Asphalt für meinen Körper zu finden, um immer wieder zu dem bitteren Schluss zu kommen: es sieht schlecht aus. Wenn ich am Ende des Tages Fahrradfahrer mit einer goldfarbenen Schärpe ausstatte und das Absteigen applaudierend begleite. Wieder einen Tag überstanden: gemeinsam mit jenen Pkw und Motorrädern, die mit rotem Kurzzeitkennzeichnen und Gopro-Kamera ausgestattet, zur dröhnenden Höchstform auflaufen, aber auch mit all den zähnefletschenden Sport Utility Vehicles, mit denen der Stadtalltag bestritten wird, indem die Stadt und die Welt einfach ausgeklammert werden. "Alles Störende bleibt draußen", stellt Inga fest.

Und die Stadt wird eine künstliche. Das bewegte Bild von ihr fällt durch die Fenster ins Innere des Autos ein. Es ist wie Schauen im Kino, ein Effekt, der sich sonst nur einstellt, wenn du mit deinem Rotweinmagen im Fond eines Taxis liegst. Wenn Schilder oder Menschen zu sehen sind, stellen sie nur noch ein mögliches Detail in der Szenerie dar – keine Tatsache.

Ich bin die Figur rechts auf dem Trottoir. Ich habe übrigens keinen Führerschein. Ich habe mit 18 Jahren das Land gegen die Großstadt und darauf die Großstadt gegen eine Metropolenregion eingetauscht.

Ich gehe gerne. Ich fahre gerne Zug. (Ich bevorzuge die klassische Ankunft.) Bus und Taxi nur im Notfall. Ich habe eine Monatskarte und Erfahrungen: Neben den vielen ungezählten Schritten, den Anderen in ihrem Sein, der Last der Taschen und dem Hagel im Gesicht weiß nur ich, wie es ist, wenn ein Umzug auch postalisch erfolgen kann, wie es durchaus möglich war, als ich noch in möblierten Zimmern gewohnt habe. Ich kenne aber auch die Starre der Zeit an Haltestellen und auf Bahnhöfen zwischen zwei Fahrtabschnitten. (Ich denke an 30 Minuten Ewigkeit und einige qualvolle Stunden in Hamm. In solchen Momenten half Musik, Literatur und Journalismus. Und wo liest es sich schöner als in kalten Bahnhofshallen oder im Zug?) Und ja, hin und wieder muss ich Sätze ertragen wie: "Wer fährt denn jetzt? Denn die einzige Person, die noch nüchtern ist, hat keinen Führerschein."

Dann bestelle ich mir ein Glas Rotwein.

7 August 2017

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017
Closeup

Mit der selben Überraschung, die ich früh am Morgen über das rege Treiben auf den Bahnhöfen und in den Zügen verspüre, warte ich an drei Tagen zwischen 21 und 24 Uhr auf einen Regionalzug, der mich in die nächste Stadt nach Hause trägt. Jeder ist da.

Umso später die Stunde, umso härter die Nackenmuskulatur, die mir trotzig zeigt, dass meine Haltung während der zuvor verrichteten Arbeit falsch war. Ich dulde den Schmerz. Ich war schnell. Zur Belohnung esse ich eine Waffel am Stiel – ohne Puderzucker. Ich sehe das Gras zwischen den Gleisen, das schon immer da war und grün schimmernd zwischen den Steinen wächst. Inmitten der Halme sind Mäuse auf der Suche nach Futter zu sehen. Eine huscht mir auf dem Bahnsteig über die Schuhe. Sie sind nur hier, weil wir es sind.

Beim Gang durch die nächtliche Stadt meinst du mich, wenn du über die Lichter in den Bürogebäuden sprichst. Wir sind es. Jeder ist in seinem Großraumbüro allein. Es gibt keine Namen. Für zehn Euro die Stunde bin ich die, die dir die Startseite aktualisiert und dir das Gefühl des ewigen Jetzt gibt. Ich erschaffe dir unendliche Welten aus Bildern. Ich unterhalte dich mit einer Umfrage und einem Quiz. Ich schreibe eine Glosse zu dem Aufregerthema des Tages, die du nicht lesen wirst. Ich gleite durch Twitter und Facebook, um nachzuvollziehen, was dir gefällt. Reicht es für einen Artikel? Ich nehme freundlich die Texte freier Mitarbeiter entgegen und bedanke mich. Ich sorge dafür, dass erzählende Elemente aus den automatisch einlaufenden Printartikeln entfernt werden und die Idee getötet wird. Die Story lebt, doch nach mir gibt es keine Überschriften und Einleitungen mehr, sondern nur noch Headlines und Teaser. Kommst du mit mir hinter den Vorhang? Ich lösche eure Kommentare, wo auch immer ihr zu laut sprecht, und schreibe, wenn es die Zeit zulässt, höflich im Namen der Redaktion. Während du und zehn andere entrüstet antwortet, kündige ich die letzten Sportergebnisse in den sozialen Medien an und bearbeite fortlaufend den Posteingang. Ich warte auf einen DPA-Artikel. Ich warte auf neue Bilder. Das Telefon bleibt still. Heute ist nichts passiert.

Nach ein paar Stunden verfasse ich eine Übergabe per E-Mail. Ich rede über Inhalte und Aufgaben, ich meine Workloads.

Irgendwann war es wie abwaschen. Ich war im Fluss. Ich war fehlerfrei.

Ich habe dabei Musik gehört.

"Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017", eine Erzählung, Format und Ausmaß unbestimmt. Bisher erschienen: Prolog, Die Tiefpunkte, The Culture I, Überforderung

22 June 2017

Im Verborgenen

Vor einiger Zeit veröffentlichte das Magazin Metamorphosen einen Call for Papers zum Thema Arbeit. Ich habe den Aufruf kurz vor Ablauf der Deadline wahrgenommen, als ich einen Businessplan verfassen musste, dessen literarische Qualitäten gemessen am Grad der Wahrhaftigkeit groß, die poetische Finesse jedoch gering war. Daher habe ich den Gedanken verworfen, diesen Text als Beitragsvorschlag einzureichen. Ebenso außer Frage stand die Einsendung einer alten, nicht veröffentlichten Kurzgeschichte über eine Textarbeiterin, die über das Ruhrgebiet berichten soll, das nur noch ein großes Loch mit wenigen belebten Zonen ist, weil zu einem unbestimmten Zeitpunkt sämtliche alten Bergwerksstollen eingebrochen und synchron fast vergessene Weltkriegsbomben hochgegangen sind. Eines der wenigen unbeschadeten Gebäude ist das Opel-Werk in Bochum, das zu einem (unbesuchten) Museum des 20. Jahrhunderts umgewandelt wurde, in dem jeder Besucher, so der Gedanke, selbst Autofahren kann und eine Wand zu bestaunen ist, auf der sämtliche Ölpreise festgehalten wurden. Daher blieb lediglich der Versuch, einen neuen Text zu verfassen.

Die Deadline verstreicht, als ich spazierend in das Album Mach’s besser von Die Sterne höre, auf der Peter Licht eine rührende Version von Universal Tellerwäscher darbietet. Während das Original zum Tanz verleitet und die Konzentration auf der Bewegung liegt – auch wenn es nur eine gedankliche ist – rückt die balladeske Interpretation den Text in den Fokus.

"Er kennt sich schon Lange
Und er kann sich nicht mehr sehen
Dabei gibt es wirklich 1000 schöne Filme über ihn

Als den Universal Tellerwäscher
Im Studio
Er wäscht wirklich Teller
Er tut nicht so"

Stimmt. Der Tellerwäscher macht seine Arbeit wirklich. Wir sehen ihn in strobohaften Sequenzen während des Restaurantaufenthaltes, wenn sich die Schwingtür zu Küche hin öffnet und nur zögerlich beruhigt. Dort hinten am Edelstahlbecken steht er und wäscht Teller in Weiß gekleidet.

"Er wäscht keine Teller / Er tut nur so", führe ich den Refrain in Gedanken weiter. Und variiere, ohne das zuvor gedachte durchzustreichen: "Er wäscht wirklich Teller / Doch tut so als ob nicht".

Denn, so scheint mir, manifestiert sich Arbeit in einigen Bereichen dadurch, dass Insignien einer unterstellten Leistung zur Schau getragen werden, die eigentlich ausgebübte Tätigkeit unbekannt (weil schon verschwunden?) ist. Oder es wird durch schmal geschnittene Anzüge, edle Businesskostüme, Fashion oder exzessiver leisureness eine bestimmte Position oder (zeitlicher) Wohlstand ausgedrückt, was noch mit der Vorstellung von erbrachter, erfolgreicher Arbeit einhergeht, doch die damit verbundene Bemühung verschleiert bleibt. In letzterem Fall sind wir wieder in Hollywood: Kaum war Marylin Monroe im August 1962 verstorben, nutzte Andy Warhol für sein Marylin Diptych ein Pressefoto zu dem Film Niagara aus dem Jahr 1953. Das Zusammenspiel des ursprünglichen Fotomaterials, das Monroe als type geprägt hatte, mit der Überhöhung im Werk lenkt in dem Moment den Fokus auf die Künstlichkeit der Figur, als die Bilder des toten Körpers der Schauspielerin und des zerwühlten Bettes kaum verblasst waren. All die Anstrengung, all die Arbeit, bis dahin im Verborgenen gehalten, wurde kurz sichtbar.

Wäre sie doch faul geblieben.

10 June 2017

Wauwau

Kaum endet der erste Refrain der Hunde-Hommage I want a Dog*, ein genialer Schmachtfetzen, mit einem von Dirk von Lowtzow gebrechlich dargebotenen "Wau, wau, wau, wau, wau", kann ich mich nicht entscheiden, ob ich über den Klang und den Einsatz der Lautmalerei noch schmunzeln oder die durch eben jenes "Wau, wau, wau, wau, wau" ausgelösten Erinnerungen zulassen soll. Die damit verbundenen Emotionen werden durch eine Google-Anfrage nach dem Hund in der Popmusik unterdrückt. Das vermisste Bellen verhallt.

Diverse Bände gibt es über den Hund in Kunst und Literatur (aktuell diskutierter Tatbestand Kunst: siehe Venedig+Dobermann+Imhof). Bei der Suche nach dem Hund in der Popmusik sind es lediglich Listen (eine E- und U-Problematik?), die Plattencover oder Songs versammeln, die sich entweder dem Hund als Gefährten widmen oder in denen das Wort Hund als (negative) Metapher herhalten muss: so wird beispielshalber Martha my dear von den Beatles mit Dog days are over von Florence and the Machine vereint (hier zeigt sich eine definitorische Schwäche in der Nutzung des Wortes Hund als umbrella term). Der Pet-Shop-Boys-Song, von dem eingehend als Cover die Rede ist, findet sich in keiner dieser gefundenen Listen. Aber das Internet ist endlos. Also: wer weiß.

Etwas unberücksichtigt erscheinen mir ebenfalls die Hunde in der Mode. Zwar müsste heute jede Tierart, so auch der Hund, über einen (mehrere!) Agenten verfügen, der sich um die u.a. inflationäre und omnipräsente Verwertung tierischer Embleme zur menschlichen Dekoration und Belustigung kümmert (man bedenke die Klagewelle!) – oder der die mit Juwelen besetzten Umhänge von Vivienne Westwood zur Diskussion stellt –, aber was ist mit dem Status all der treuen Begleiter, die stets unter den Arbeitstischen lagen/liegen und deren Anwesenheit absolut zwingend war/ist? Rudolph Moshammers Liebe zu seinem Yorkshire Terrier Daisy ist jedem noch in Erinnerung. Doch jenes Tier eines Modedesigners, das sogar über einen Wikipedia-Eintrag verfügt, ist eine Katze: Karl Lagerfelds Choupette. Dabei heißt es doch in I want a Dog absolut schlüssig: "Oh, you can get lonely / and a cat's no help with that".

Der Hund von Christian Dior hieß Bobby und er verewigte seine Zuneigung mit der Betitelung eines Kostüms. Yves Saint Laurent nannte seine Französischen Bulldoggen stets Moujik, die auf vielen Fotografien auftauchen: zum Beispiel gemeinsam mit Saint Laurent auf Skizzen blickend, die auf dem Boden liegen oder neben dem Arbeitstisch hockend, während Saint Laurent, im weißen Kittel gekleidet, zeichnet. Und dann machen wir es einfach: Statt der Entwürfe, die im Moment der Aufnahme wohlmöglich entstanden sind, schieben wir Saint Laurent – es ist ein lauer Tag, das Fenster ist offen, die Verkehrsgeräusche, von der Pariser Avenue Marceau kommend, lenken ihn kurz ab – ein fast unmerklich stibitztes Blatt aus dem Video zu I want a Dog unter, in dem Hunde gescribbelt werden (sie werden mit "George" oder "Lilith" benannt). Irritiert blickt er, Saint Laurent, auf das Papier, schiebt die Schildpatt-Brille zurecht, nimmt kleine Korrekturen vor, erweitert und setzt in Schönschrift "Moujik" darunter.

"Wau, wau, wau, wau, wau."

*Vinyl-Single, Martin Hossbach, 2017

3 June 2017

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017
Überforderung

Am 13. August 2009 erhalte ich eine Kündigung. In dem Schreiben heißt es: "Die schlechte wirtschaftliche Lage lässt eine Weiterbeschäftigung leider nicht mehr zu. Die kurzfristig geführten Gespräche mit der Bank ergaben nicht den erwünschten Erfolg".

Da ich mich nur elf Monate in einem Angestelltenverhältnis befunden habe, bedeutet das für mich erneut: Hartz IV. Mit dieser Perspektive und nach einem Besuch bei der Agentur für Arbeit, wo mir mit einer Mischung aus Herablassung und Überdruss begegnet wurde, mache ich meinem Noch-Arbeitgeber den Vorschlag, mich für die gleiche Arbeitszeit (20 Stunden) zu einem geringeren Lohn weiter zu beschäftigen. Dieser liegt brutto nur knapp über dem Hartz IV-Niveau bei 700 Euro, erspart mir jedoch den Gang zum Amt. Ich dumpe mich selbst. Ich werde nicht darüber reden.

Er stimmt zu. Ich arbeite weiter. Nach einen Monat erhalte ich bereits wieder mehr Lohn, dieser liegt jedoch bis zu meiner selbst ausgesprochenen Kündigung bei rund 900 Euro und so dauerhaft 200 Euro unter meinem Startgehalt von 1100 Euro monatlich.

Bis Ende 2010 arbeite ich also Dienstag und Mittwoch in Paderborn sowie Donnerstag von 8 bis 12 Uhr im Home Office. Aus Angst erneut gekündigt zu werden und aufgrund von Geldeinbußen bin ich zusätzlich freiberuflich als Online-Redakteurin für zehn Euro die Stunde bei einer Lokalzeitung tätig. Meistens sitze ich Freitagabend und Samstagnachmittag allein in der Redaktion, immer häufiger auch Sonntagnachmittag. Im Fachjargon bin ich eine Content-Schuppse. Wenn ich zweimal im Jahr einen bezahlten Lehrauftrag nachgehe, findet dieser an drei Wochenenden jeweils freitags und samstags statt. In diesem Zeitraum arbeite ich nur sonntags in der Online-Redaktion.

An Montagen versuche ich regelmäßig von 11 bis 16 Uhr an meiner Dissertation zu arbeiten. Wenn ich es schaffe, einen Text zu lesen und zu exzerpieren, ist es ein guter Tag.

Es gibt nur selten gute Tage. Ich fühle wenig. Ein Bier geht immer.

Ende 2010 kündige ich meinen Job in Paderborn. Ich liefere meinem ehemaligen Arbeitgeber für eine 450-Euro-Pauschale im Monat jedoch weiterhin ein paar Texte für seinen Unternehmens-Blog. Aufwand: etwa ein Arbeitstag wöchentlich. Ich weite ab 2011 meine freiberuflichen Tätigkeiten als Online-Redakteurin aus und komme gut um die Runden. Ich gewinne an Zeit, bilde ich mir ein. Doch wenn ich von 18 bis 23/24 Uhr im Akkord arbeite, kann ich am nächsten Tag doch nicht um 9 Uhr wieder am Schreibtisch sitzen und mit Haltung schreiben. Das werde ich mir nie eingestehen. Übermüdung. Frustration. Ich bin von dem ausgeglichenen Jobcocktail der Rösinger’schen Gleichung weit entfernt (künstlerische, in meinem Fall wissenschaftliche, unbezahlte Arbeit 50 %, Brotjobs 25% und coole, schlecht bezahlte Aufträge im kulturellen Bereich 25%)*.

Wenig Sinn für Schönes also. Kaum Erinnerung an Musik und Literatur. Leere. Statt mir einzugestehen, dass ich lieber mehr literarisches und journalistisches Schreiben üben wollen würde, komme ich auf die Idee, Donnerstagnachmittag einen unbezahlten Lehrauftrag von 18 bis 20 Uhr anzubieten. Fürs Ego, denke ich. Für den Lebenslauf, denke ich. Muss ja, denke ich. Ein Fehler. Die letzte Bewerbungen und somit Absagen auf eine wissenschaftliche Stelle habe ich 2009 verfasst beziehungsweise erhalten. Ich bin nur noch eine Pose – eine schlechte. Eine Entzündung am Arm wollte im Sommer 2010 nicht heilen.

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 bisher: Prolog, Die Tiefpunkte, The Culture I

*siehe: Christiane Rösinger, Das schöne Leben, Fischer Taschenbuch, S. 191.

7 May 2017

Unternehmer wie wir

Staaten können wie Unternehmen geführt werden. Das eigene Leben somit auch, beispielsweise indem unliebsame Aufgaben an externe Dienstleister ausgelagert werden. Das kostet zwar, aber das finanzielle Investment soll zur Maximierung eines noch höheren Gutes dienen: Zeit. Dieser stehen die größten Probleme eines erfüllten, modernen Lebens im Wege: Putzen und Kochen.

Die Gebeutelten haben daher zahlreiche Plattformen zur Verfügung, die Reinigungskräfte vermitteln: einfach und günstig. Implizierter Grund für die Buchung ist hier keine bloße Abneigung gegen das Putzen, sondern fehlende Zeit. Diese wird Dank der tatkräftigen Unterstützung zwar nicht zurückgewonnen, muss aber ebenfalls nicht von der Freizeit abgezwackt werden.

Wehmütig sind nur jene, die die kontemplative Wirkung des Staubsaugens zu schätzen wussten, die inspirierenden Bewegungen des Badputzens und den gelegentlich aufkommenden Unmut gegen alles. Ein Gefühl, das einfach zugelassen und ertragen wurde.

Auch Kochen ist eine Last und Essen eine schlichte Notwendigkeit – zudem gibt es ein Problem: urplötzlich eintretender Hunger, ein leerer Kühlschrank, Überstunden, eine dreckige Küche, schlechtes Wetter zum Einkaufen, körperlich spürbarer Liebeskummer, ein schwerer Hangover. Klar: in solchen Fällen wird eine Nummer gewählt. Und plötzlich wird die Zeit des unnötigen, kräftezehrenden Herumstehens in der Küche abgelöst von "Deiner Zeit", so das Werbeversprechen. Nichts schöner als das. Meine Zeit. Unsere Zeit.

Zeit, in der ich hungrig warte, das Magenknurren zähle, die hereinwehenden Früchte des Löwenzahns beobachte, die ihr haarigen Flugschirme auf meinem Bett abwerfen, die ich dann durch meine Atmung in Bewegung halte. Kleine bauschige Freunde. Zeit vergeht. Vorbei das leidvolle Umrühren einer Hühnerbrühe, deren Duft einen bloß wieder in die Fänge der Melancholie schuppst.

Doch die Momente gehören uns nicht. Denn wird die 'gewonnene' Zeit tatsächlich dazu genutzt, um diese mit sich, mit der Familie und Freunden zu verbringen? Meistens wird dann doch nur gearbeitet, um sich den Service leisten zu können. Die Effizienzheinis freuen sich, weil so die entscheidende Warum-eigentlich-Frage nicht aufkommt. Zur Vorbeugung wird schnell die Jeggings angezogen, um bloß keinen Widerstand, bloß kein Problem am Körper zu spüren, kein nerviges Zwacken, das auf etwas Größeres hinweist, mit dem sich der Mensch auseinandersetzen müsste, gar lernen müsste damit zu leben. Doch warum auch: meinem Avatar geht es doch gut.

24 April 2017

George / Hibiscus

Aufnahmen von Demonstrationen, hunderttausendfach geteilt, millionenfach geliked, häufig auch dann, wenn Lebendiges auf Erstarrtes trifft, weich-fließende Alltagskleidung auf harte Schutzausrüstung oder eine einzelne Person einer Menge selbstbewusst gegenübertritt. So wäre es heute auch jenem Foto ergangen, das 1967 in Washington D.C. aufgenommen wurde, im Augenblick des Hypes unwissend, dass sich die zentrale Person auf dem Foto wenig später für eine andere Protestform entschieden hatte, mit der alle Gegensätze aufgelöst werden sollten.

Es muss ein freundlicher Tag gewesen sein, als sich der vom National Mobilization Committee to End the War in Vietnam initierte Protestzug am 21. Oktober 1967 in Richtung des Pentagon in Washington D.C. bewegt hat. Fotos zeigen, wie sich die Sonne auf dem Wasser des Lincoln Memorial Reflecting Pool bricht – oder ist es doch der Teich des West Potomac Park, wo die Demonstration startete? – Hemden, Blusen, leichte Pullis und Jacken; keine Schals.

Der 18-jährige George Harris III. aus New York hatte sich an diesem Tag für einen weißen Strickpullover entschieden, als er in Washington Halt machte. Ein geplanter Stopp? Ein Intermezzo? War er schon länger vor Ort? Denn im Herbst 1967 reiste er zusammen mit den Autoren Irving Rosenthal und Peter Orlovsky nach San Francisco. Zuvor lebte er drei Jahre mit seiner Familie in New York, wo er Schauspielunterricht nahm, neben Rosenthal auf Jack Smith traf und in dem Stück Gorilla Queen des Theatre of the Ridiculous von Charles Ludlam mitspielte.

Als der Protestzug das Pentagon erreicht hatte, warteten dort bereits Soldaten des 503rd Military Police Battalion. Ein Kader formte einen Halbkreis um die Demonstranten, zingelte sie ein. Auf dem Foto, das unter dem Namen Flower Power berühmt wurde, steht George den Soldaten gegenüber, die ihre Gewehre im Anschlag haben. Er umfasst einen kleinen Strauß Nelken mit der linken Hand und steckt einzelne Blumen mit seiner rechten in die Gewehrläufe. Der Fotograf Bernie Boston hält den Moment fest.

In San Francisco angekommen, die Hippie-Bewegung hatte mit dem Summer of Love ihren Zenit bereits überschritten, schloss sich George der Kaliflower-Kommune von Irving Rosenthal an und gründete später die Cockettes – bekannt für ihren "Alien Glamour" (Mike Kelley), bekannt für ihre Bühenshows und die Schaffung eines alternativen sozialen Raums abseits bestehender Normen – und darauf die Angels of Light.

George wurde Hibiscus: ständig auf LSD, in alte Kleider und Tücher gehüllt, Pailletten im Bart und opulentes Make-up tragend, ruinöser Drag – genderfuck heißt es im Zusammenhang der Cockettes erstmals –, barfuß auf den Straßen gehend. Er hatte sich von einem "preppy pacifist, all floppy blond fringe and chunky roll-neck sweater"-Typen der Ostküste in eine glitzernde, exaltierte Kunstfigur verwandelt, wie sie nur an der Westküste möglich schien. "Things are looser in the west".

Er war ein "Jesus Christ with lipstick".

9 April 2017

Eigentlich. Aber. Und.

Andy: So what do you do?
Frances: Eh… It’s kinda hard to explain.
Andy: Because what you do is complicated?
Frances: Eh… Because I don’t really do it.

(aus: Frances Ha, 2012)

Im Dezember 2006 schrieb Georg Diez in der Tempo-Jubiläums-Ausgabe "Gegen die Eigentlichkeit" an. Das Phänomen dieser "Neuen Eigentlichkeit" konnte er an all jenen beobachten, die sich zwischen mehreren, meist schlecht bezahlten Jobs bewegten, und das, vor ihrem Notebook sitzend, Naan-Pizza essend und Espresso Latte trinkend, schöngeredet haben – wabernde Musik hörend. Möglich, weil ihnen ein kleines Wort beiseite stand: "eigentlich". Es verhinderte die Bekenntnis zur Unentschlossenheit, wodurch die persönliche und gesellschaftliche Misere geschickt vernebelt wurde. (Statt: "Ich kellnere zwei bis drei Mal die Woche und arbeite als [...], weil ich von der Tätigkeit als [...] nicht leben kann" hieß es: "Ich kellnere, aber eigentlich bin ich [...]").

Die Neue Eigentlichkeit attestierte er für Deutschland, wurde in dem Beitrag aber insbesondere an Menschen zwischen 20 und 30 Jahren in Berlin-Mitte exemplifiziert: "Sie sitzen in Prenzlauer Berg in Ladenbüros, die aussehen wie ein Modesalon, der eigentlich eine Galerie ist, die eigentlich ein Architekturbüro ist, das eigentlich ein Restaurant sein soll. [...] Sie sind Popstars, die Kellner sind, oder Praktikanten, die noch eine zweite Karriere suchen".

Sie waren gerne eigentlich und betrachteten sich als gleichberechtigter Spieler in der Flexibilitätsarena.

Ebenso wie Adorno in "Jargon der Eigentlichkeit" die offizielle Sprache der Nachkriegszeit kritisierte, weil er in dieser eine Verlogenheit erkannte, die es auch vermochte, "Nichts als Etwas" zu bezeichnen, stand der Eigentlichkeitsgebrauch anno 2006 bei Diez für eine Romantisierung der Ausbeutung. Von oben wurden Ideen vom Projekt des Lebens, der Flexibilität und des Optionismus als Wahl offeriert, obwohl es für viele bereits ein Diktat war.

Die Eigentlichkeitskultur besteht weiterhin. Obwohl jenes Eigentlich durch ein Und ersetzt werden kann. Denn es bleibt beruflich das, was es schon immer war: eine Aneinanderreihung von Jobs. Jeder muss alles sein. Ein Ich sucht Verwertungskette. Matthias Schweighöfer singt. Andere sind dauergestresste Allrounder geworden, die keine Chance mehr haben, ihre Fähigkeit oder ein Talent besonders stark auszuprägen, aber dafür über drei weitere Skills so gut verfügen, dass sie weder positiv noch negativ auffallen und dadurch die Miete zahlen können. Man nennt es Standbeine, zu denen eine als Album getarnte Playlist die richtigen Songs bereithält.

3 April 2017

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017
The Culture I

Berlin ist ein stummes Standbild mit bestreikten Sonntagsstraßen um 21 Uhr. Die Stimme zum Bild hat einen starken anhaltinischen Akzent. Nach dem mitleidsvollen "Thank you for travelling with Deutsche Bahn" erinnere ich mich, dass ich meinen originären Dialekt verloren habe. In welchem Mund ich ihn spuckte, weiß ich nicht mehr. Der Verlust kam dem Austausch des eigenen Bildes gleich. Im Visier immer der befreite Klang. Bevor ich am Ostbahnhof aussteige, dringt der Geruch von frisch gewaschener Wäsche aus meinem Rucksack zu mir durch. Da ich Berlin nicht hören kann, mache ich die Stadt zu einer Wiese im Frühling. (Anfang des Minusvisionen-Eintrags I lost my De:Bug in Moabit (1), März 2008)

Mein kulturelles Jahr 2008 endet damit, dass ich an einem Oktoberabend in der Galerie Zern in die US-Armee eintrete und mich durch die Anreise verschulde. Es werden – trotz Spartickets – wie nach allen Fahrten in dieser prekären Zeit, für die ich mich beim Arbeitsamt hätte abmelden müssen, also sehr dürre Wochen folgen, die lieblich-bitter nach Nudeln mit Zucker schmecken. Hin und wieder ein Päckchen mit Lebensmitteln in der Post samt einer Tafel Schokolade in wiederverschließbarer Verpackung darin, in der 20 Euro stecken.

Von jenem Army-Abend bleibt ein digitales Foto vor weiß-roter Flagge als Beleg und die Hoffnung, dass das alles nur ein Scherz war. Im heißen Juni 2007 bestand das Relikt Marke Berliner Semiotik noch aus drei iranischen Münzen, die mir Christian Kracht am letzten Abend der Wissenschaftsakademie in die Hand gedrückt hatte.

Identität wiegt schwer. Ich trinke auf meine schicksalhafte Tat und ihre Folgen in der Bar Babette, wo eine Veranstaltung des Verbrecher Verlags stattfindet. Doch ich bin ausnahmsweise nur wegen der Getränke dort. Ich lese wenig. Bücher sind teuer. Essen auch. (Ich erinnere mich für 2008 nur an Leihgaben aus der Stadtbibliothek oder von Freunden wie Lyrische Novelle von Annemarie Schwarzenbach, Ein Gast und Das Bad von Yoko Tawada, vielleicht noch etwas von Truman Capote, der 2007 prägte. Ich kaufte Softcore von Tridad Zolghadr sowie Lunar Park von Bret Easton Ellis als Mängelexemplar. Dann hört die Erinnerung auf.) Die Nacht ist kühl und trocken. Das Taxi billig. Im Gepäck habe ich das Ausstellungsplakat zu Join the U.S. Army, das mit Lippenstift signiert wurde und deren Herstellung Erik Niedling gesichert hatte.

Nach einer Übernachtung bei Schulfreunden in der Nähe des Frankfurter Tors empfiehlt mein überteuerter Moleskine-Taschenkalender (Softcover) für den 2. November einen Besuch in der Galerie MD72 und einen Gang in die Temporäre Kunsthalle. Ich folge der Notiz und besuche die Galerie, weil ich hoffe, The Wishing Machine betätigen zu dürfen. Ich hab's nötig. Im April saß ich bereits auf einem Brandenburger Schloss vor einer Dreamachine und folgte dort dem Flickern auf meinen Lidern. Keine Drogen. Keine Vision.

Zurück in der MD72: Ich darf. Ich schreibe den Wunsch auf einen Zettel und lege diesen in einen kleinen bräunlichen Kasten mit Antenne. Ich bediene einen Kippschalter. Klack. Ein Lämpchen leuchtet auf. Die Maschine läuft. Klack. Vorbei. Nichts. Berliner Herbst. Immer noch nicht reich. Auf knarzenden Parkett verlasse ich den Altbau, einem Paar im Partnerlook folgend.

In der blau-weißen Temporären Kunsthalle auf dem Schloßplatz wird die Ausstellung Inner + Outer Space von Candice Breitz gezeigt. Es ist voll. Touristen wie ich. Gefühle und somit eine Erinnerung bleiben beim Blick auf installierte Bildschirme aus, immerhin gibt es draußen noch wenige stählerne Reste des Palasts der Republik zu suchen.

Bei diesem wiederholten Gang durch Berlin trage ich den selben Secondhand-Wollmantel wie am 10. März, als im Hebbel am Ufer die Pyramiden-Gala stattgefunden hat. Jener zweite Höhepunkt des Projekts Die Große Pyramide – ein Grabstädte für die Menschheit als Infrastrukturmaßnahme – nach dem Pyramidenfest 2007 am damaligen potenziellen Entstehungsort Streetz/Natho. Wurde jener Tag eingeleitet durch die Spielmannszugversion von The Final Countdown, versprach das Programm in Berlin folgende Mischung: Rem Koolhaas, Momus, Jens Friebe und und und.... Aftershow mit Carsten Jost im WAU.

Alle waren da. Großes und Kleines Hallo. Zuprosten.

Ich kann mich kaum an etwas erinnern. Ein Gefühl von Hilflosigkeit. Ich trinke allein. Ich habe das schwarze Kleid wie später im April in Brandenburg getragen.

Durch Irmgard Keun geschult, bin ich erleichtert, dass mein Wollmantel nicht der Feh aus dem Roman Das kunstseidene Mädchen ist. Es ist noch Luft nach unten oder oben. Und ich bin weder in einem Wartesaal noch in Berlin oder Köln, aber irgendwo dazwischen und schreibe sinnlose Bewerbungen ("Bitte bewerben Sie sich nicht mehr", heißt es einmal).

Ich werde mich und meinen Mantel später nur auf einem kleinen, dunklen Foto erkennen, das in meinem Facebook-Newsfeed auftaucht. Im Moment der Aufnahme muss der Fotograf auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden und seine Kamera auf das HAU gerichtet haben. Ich hätte das liken können.

(Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 erscheint monatlich auf Minusvisionen. Die Form bleibt unbestimmt.)

26 March 2017

Die letzten Raucher

Fragenbogen für einen fiktiven Protokollband

Beschreiben Sie den Moment, als Sie mit dem Rauchen angefangen haben.

Haben Sie das Rauchen von Beginn an offen ausgelebt oder geheim gehalten? Welche Faktoren haben zu letzterem geführt?

Haben Freunde und/oder Familienmitglieder bereits geraucht und, wenn ja, wie haben Sie das Rauchen wahrgenommen?

Welche Eigenschaft verbinden Sie mit dem Rauchen?

Wie viele Zigaretten rauchen Sie täglich?

Der Konsum von Alkohol kann das Rauchverlangen verstärken. Nennen Sie eine Situation, in der sie nach einer Zigarette ‚richtig’ betrunken waren.

Welche Art von Zigaretten bevorzugen Sie und warum (gedreht, gestopft, industriell hergestellt)? Was soll das über Sie aussagen?

Haben Sie sich in Ihrer Raucherkarriere schnell für eine Marke entschieden? Um welche handelt es sich? Welche Faktoren waren für die Wahl wichtig?

Wie transportieren Sie Ihre Zigaretten: Schachtel, Softpack oder Etui?

Beschreiben Sie Ihren Rauchstil: vom Herausholen/Drehen der Zigarette über das Legen der Zigarette an die Lippe/in den Mund, das Anzünden, die Art des Haltens bis hin zum Aschen und Ausdrücken.

Ist Ihr Stil beeinflusst durch Bilder oder Personen des öffentlichen Lebens? An wen denken Sie?

Können Sie eine Filmszene beschreiben, in der geraucht wird?

Mögen Sie Menschen mehr, die ihre Zigarette im gleichen Stil halten wie Sie?

Welchen Rauchstil lehnen Sie ab?

Wie ist Ihre Position zu Bio-Zigaretten und/oder E-Zigaretten, sog. Verdampfern?

Verfügen Sie über kultische Rauchutensilien (schöne Aschenbecher, edle Feuerzeuge, ein Smoking Jackett, Zigarettenspitze) und warum?

Ist rauchen für Sie männlich, weiblich oder androgyn?

Wann empfinden Sie rauchen als schön und wann kippt der Akt für Sie in Hässlichkeit um?

Ist diese Wertung abhängig vom Geschlecht, vom körperlichen Zustand und sozialen Status des Rauchenden?

Was denken Sie, wenn Sie ein Foto von Michel Houellebecq sehen?

Sind Sie süchtig? Wenn ja, in welchem Moment haben Sie sich diese Diagnose gestellt?

Wie ist Ihre Haltung zur Sucht?

Verbinden Sie mit dem Rauchen ein besseres Alleinsein oder die Fähigkeit des Schaffens von Geselligkeit basierend auf dem gleichmacherischen Akt des Rauchens?

Wo rauchen Sie am liebsten?

Wann waren Sie das letzte Mal froh Raucher zu sein?

Geben Sie von Ihren Zigaretten gerne welche ab?

Teilen Sie sich gerne mit einer Person eine Zigarette? Was muss diese Person auszeichnen? Ist diese Form des Teilens eine Form von Intimität?

Küssen Sie gerne?

Mögen Sie den Geruch des Rauchs? Oder machen Sie etwas dagegen?

Würden Sie sich als besonders reinlich beschreiben?

Haben Sie das Rauchen jemals bereut? Ist diese Reue nur auf Sie gerichtet oder wird das Gefühl auch durch andere ausgelöst?

Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Kinder mit dem Rauchen anfangen würden?

Haben Sie bei einem Arztbesuch schon einmal über Ihr Rauchverhalten gelogen? Wenn ja, warum? Und glauben Sie, dass Ihr Arzt die Lüge erkannt hat?

Was geht Ihnen bei einer Blutabnahme durch den Kopf?

Haben Sie mit dem Rauchen aufgehört? Was hat dazu geführt?

Wie würden Sie die Rolle der Angst beim Wunsch mit dem Rauchen aufzuhören einschätzen?

Sind Sie/wären Sie froh über Abstinenz?

Halten Sie manchmal eine Zigarette, ohne sie anzuzünden?

Wenn Sie mit dem Rauchen aufgehört haben: Vermissen Sie es?

Sind Sie gesund?

16 March 2017

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017
Die Tiefpunkte

(Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 erscheint
monatlich auf Minusvisionen.)

Ich bin von Januar bis Oktober 2008 arbeitslos. Ich erhalte Arbeitslosengeld II. Vom 1.1. bis zum 30.6. bekomme ich monatlich 664,64 Euro. Ab dem 1.7. bis Oktober sind es 668,64 Euro. Die darin enthaltene Höhe zur Sicherung des Lebensunterhalts beträgt zu diesem Zeitpunkt 347 Euro. Abzüglich der Kosten für Strom, Festnetz, Internet, Handy, Monatsfahrkarte sowie für zwei bis fünf Bewerbungen monatlich verbleiben mir durchschnittlich 160 bis 180 Euro zum Leben. Hin und wieder frage ich meine Mutter nach 20 oder 50 Euro sowie nach Lebensmitteln per Post, in Abständen verdiene ich mir 50 bis 100 Euro bar durch einen Nebenjob dazu.

Ich wohne allein. Ich spreche daher wenig, insbesondere nachdem die sogenannten Fortbildungen abgeschlossen sind. Wenn keine Anrufe erfolgen: bis zu einer Woche – gar nichts. Ich hätte damals auf Minusvisionen ein Protokoll führen können. Ingo hätte das sicherlich gefallen. Doch das kommt mir nicht in den Sinn. Die Blog-Einträge werden Ende 2007 bis 2008 immer öfter sehr kryptisch. Es gibt kein außen mehr.

Am 6. Juni 2008, an meinem 26. Geburtstag, bekomme ich die DVD zu Fassbinders Angst essen Seele auf geschenkt. Ich sage: "Toll". Und bedanke mich.

Der Bildungsgutschein

Ich bin in einem kleinen Raum innerhalb eines Gebäudes mit Klinkerfassade angekommen. Ich werde nun verwaltet. Noch darf ich den Haupteingang nehmen, später wird es ein Seiteneingang für ALGII-Empfänger sein. Damit ich nicht vergesse, wo ich stehe: am Rand.

Ich werde in diesem kleinen Raum keine Eingliederungsvereinbarung unterschrieben. Denn ich erhalte sofort einen Bildungsgutschein. Das Symbol für das großes Geschäft zwischen der Arbeitsagentur und der jeweiligen Bildungsträger. Das goldene Ticket. Denn für Staat und Bildungseinrichtung ist es eine Win-win-Situation: der Träger verdient, die Arbeitsagentur muss mich nicht als 'arbeitslos' führen.

Ich befinde mich also in einer Weiterbildung. Diese besteht zunächst aus einem dreimonatigen Kurs für "Business English", den ich täglich von 8 bis 15 Uhr besuchen muss. Nach dem ersten Monat werden die Inhalte wiederholt, weil stets neue Teilnehmer in den Kurs kommen. Jeder hört somit alles drei Mal. Jeder besitzt jegliche Arbeitsblätter in dreifacher Ausführung. Jeder hatte die Chance, drei Mal seinen Text aufzusagen. Es scheint fast ein ästhetizistischer Ansatz vorzuherrschen. Auf Business English folgt der vierwöchige Kurs "Excel, Internet, Power Point". Mir wird unter anderem die Google-Bildersuche erklärt.

Der Körper

Ich habe zu Beginn der Fortbildung zwei Wochen lang Magenschmerzen. Ein neues Gefühl. Kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Auch wenn ich das Bedürfnis nach einer Krankschreibung habe, suche ich keinen Arzt auf.
Im Laufe des Jahres schlafe ich abends immer schlechter ein. Ich spüre mein Herz, deutlich, manchmal zu stark, so als hätte ich ständig zu viel Weißwein getrunken. Ich google. Ich verunsichere. Nach Monaten werden ein Langzeit-EKG und ein großes Blutbild gemacht. Nichts. Ich bin beruhigt. Ab 2009 werden die Symptome seltener.

Die Paranoia

Ich wohne in einem Erdgeschoss in einer Einzimmerwohnung zur Straße hin. Jeden Morgen stehe ich weiterhin um 7.30 Uhr auf. Ich gehe zum Fenster und ziehe meine Rollläden hoch. Nach diesem Vorgang gehe ich wieder ins Bett. Bleiben die Rollläden zu lange unten, bilde ich mir ein, dass jeder weiß, was los ist. Ich befinde ich mich dann in Die innere Sicherheit mit im Wagen der Flüchtenden, die an einer Kreuzung bei Rot halten müssen und jedes bremsende Auto um sie herum eine potenzielle Gefahr darstellt, hochgenommen zu werden. Doch die Autos fahren. Ich bleibe liegen. Die Position meiner Rollläden interessiert keinen.

Die Verzweiflung

Es ist Dienstag, Mitte Oktober 2008, die Lehman-Brothers-Pleite liegt einen Monat zurück. Ich stehe um 5 Uhr morgens an einem Gleis des Bochumer Hauptbahnhofs und warte auf einen Regionalexpress. Ich habe einen Job in Paderborn angenommen, für den ich um 4 Uhr aufstehe, um pünktlich zu sein. Grund: die einzige Zusage. Ich bin müde. Drei Tage in der Woche werde ich nun müde sein. Müdigkeit schmerzt. Nach einem halben Jahr stehe ich eine Stunde später auf. Die Müdigkeit wird bleiben.

Die Rückzahlung

Ende Oktober erhalte ich mein erstes Gehalt. Am 5. Januar 2009 erfahre ich, dass dieses an die staatlichen Leitungen angerechnet wurde, die ich Ende September für Oktober erhalten habe. Ich muss die Leistungen für Oktober fast vollständig zurückzahlen: 632,92 Euro. Ich spreche persönlich vor. Man verstehe die Problematik. Es wäre bedauerlich. Ich hätte mir meinen Lohn halt zum 1.11. überweisen lassen sollen.

Der Preis

Mitte 2008 reiche ich eine Kurzgeschichte zu einem Literaturwettbewerb in Bochum ein. Das Motto lautet: "Geld schreibt". Mein Text schafft es unter die letzten Zehn, die bei einer Lesung Ende 2008 von den Autor*innen vorgetragen werden sollen. Dort darf dann das Publikum abstimmen. Da Freunde anwesend sind, schaffe ich es auf den dritten Platz. Mein Text wird in einer Anthologie veröffentlicht.

Auf meiner Urkunde steht, dass ich 200 Euro Preisgeld bekomme. Leider muss ich mir den Preis mit jemandem teilen. Das erfahre ich erst später, als ich die 200 Euro durch die Leihgabe eines Freundes schon längst ausgegeben habe. Denn ich wollte damals nach Berlin. Ich wollte in der Galerie Zern der US-Armee beitreten*.

*Ingo Niermann, Join the U.S. Army, 31.10. – 14.11.2008, Galerie Zern, Berlin

26 February 2017

"The person you have loved is temporarily not available"

"Immer war McCullers, die eine turbulente Ehe führte, unglücklich in Frauen verliebt – unter anderem in die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach – ohne je mit ihnen eine Beziehung eingehen zu können", heißt es zu Carson McCullers in einem von vielen Texten zum Hundertsten der 1967 verstorbenen Autorin.

Carson, "tragisch-hustende, mausgraue", wie Klaus Mann über sie fälschlicherweise schrieb. Annemarie, "störrischer Unglücksengel", wie Erika Mann über die geduldete, aber auf Distanz gehaltene Freundin feststellte.

Carson. Annemarie. Eine Fast-Liebe zu der Alexandra Lavizzari schreibt: "Statt Glück und Erfüllung bescherte diese Liebe Carson allerdings nur quälende Sehnsüchte bis hin zur lebensbedrohenden Verzweiflung, während Annemarie, mit zweiunddreißig Jahren fast schon am Ende ihres Lebens angelangt, die Kraft für ein Abendteuer mit der quirligen, neun Jahren jüngeren Freundin schlicht nicht mehr aufbrachte. Für sie war es, mehr noch als für Carson, der falsche Zeitpunkt, ein tragisches 'Zu spät'..."

Ihre Beziehung war ein "Reich fein nuancierter Möglichkeiten" und daher liegt es auch an der Leserin, unerhörte Synchronizitäten herzustellen, um die "schöne Verwandtschaft" zu manifestieren, ganz einfach, indem man zwei Bücher nebeneinanderlegt.

Wir schauen also 1940 in einen Raum im Bedford Hotel in New York. Draußen der Klang der Metropole. Gedämpft. Eine Zimmertür geht auf: "Sie hatte ein Gesicht, von dem ich wußte, daß es mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen würde, schön, blond, mit kurzen glatten Haaren. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Leidens, den ich mir nicht erklären konnte. Da sie einfach prachtvoll aussah, konnte ich nur an Myschkins Begegnung mit Nastassja Filippowna in Der Idiot denken, bei der er 'Schrecken, Mitleid und Liebe' empfand", beschreibt Carson die Begegnung mit Annemarie in ihrer Autobiografie.

Gleichzeitig blicken wir 1929 in das Suvretta House in St. Moritz. Annemarie Schwarzenbach beschreibt in der Erzählung Eine Frau zu sehen die Begegnung mit einer Unbekannten in einem Grandhotel in den Schweizer Alpen. Hier geht nun eine Fahrstuhltür auf: "Eine Frau zu sehen: nur eine Sekunde lang, nur im kurzen Raum eines Blickes, um sie dann wieder zu verlieren, irgendwo im Dunkel eines Ganges, hinter einer Türe, die ich nicht öffnen darf –
aber eine Frau zu sehen, und im selben Augenblick zu fühlen, dass auch sie mich gesehen hat, dass ihre Augen fragend an mir hängen, als müssten wir uns begegnen auf der Schwelle des Fremden, dieser dunklen und schwermütigen Grenze des Bewusstseins..."

21 February 2017

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017

Möglicher Prolog

Ich bin 25 und am Ende. Das heißt: Ich fühle schon mal vor, als ich in Bochum an der Kreuzung Wittener Straße/Goystraße an der Ampel stehe und auf ein schwarzes Plakat starre. Es ist der Sommer 2007. Es ist heiß. Die Zweite Große Koalition hat Pause und die Losung scheint zu lauten: "Kapitulation". Grün auf Schwarz: "Kapitulation" – unter einer zu deutschen Sonne.

"Kapitulation": Jedes Mal, täglich, an dieser Kreuzung, gegenüber der Total-Tankstelle, in der ich mal gearbeitet habe, von der bald nur eine Brachfläche bleiben wird. "Kapitulation". Weiterhin. Wie lang eigentlich noch? Eine Woche? Zwei Wochen? Wer foltert mich?

Auch an S-Bahn-Haltestellen gibt es kein Entkommen. Unter dem Schild "Zu den Zügen" wirbt Congstar auf verschmutzten Fliesen für "Mobilfunk & DSL so einfach wie Fastfood". Daneben wird mir wieder zugeflüstert: "Kapitulation".

Ich drehe mich um und weg. Ich vermeide darauf unnötige Außengänge. Ich strecke in meiner abgedunkelten Wohnung alle Gliedmaßen symmetrisch von mir, und halte sie, wenn nötig, mit einem glatt gezogenen Laken getrennt, damit die Sommerhitze aus dem Körper gelassen werden kann, als ginge es darum, ein Fieber zu bekämpfen.

Das Plakat wird schon verschwinden. Das würde auch sonst zu teuer. Bestimmt. Radio und Fernseher bleiben aus. Das Modem wird nur zum Abrufen der E-Mails bedient. Etwas anderes schafft diese Verbindung zum Glück nicht mehr. Zeitschriften und Feuilletons gilt es zu ignorieren. Eine weitere mediale Konfrontation muss vermieden werden. Ich bin bereits beschäftigt. Denn ist es nun Meldung, Aufforderung, Mahnung, Hinweis, Rat, Provokation, Scherz, Ästhetik? "Für mich ist Kapitulation das schönste Wort der deutschen Sprache", sagt einer. "Kapitulation". Wem gilt es, wie ist es gemeint, verfügt es doch weder über Punkt noch Frage- oder Ausrufezeichen? Bin ich gemeint? Ein System? Eine Band? Der Hörer? Wer unterwirft sich wem? Und: bedingungslos?

Kapitulation von Tocotronic erscheint schließlich am 6. Juli 2007. Ich kaufe das Album nicht. Ich liege so rum. Ohne großes Geld. Ich leihe höchstens. Ich bestreite mein Leben aus einer Mischung aus Bafög, Halbwaisenrente und Kindergeld. Es kommen um die 800 Euro zusammen – fürs da sein. Da denkt man fast: toll. Ich befinde mich im letzten Semester meines Studiums und habe erstmals keinen Nebenjob mit der Hoffnung: Zeit. Wahrscheinlich mache ich aber doch etwas. Bedauerlicherweise gehe ich noch davon aus, dass das Aufbringen von irgendetwas in irgendetwas münden könnte. Schlüssige Begründungen kann dazu sicherlich Bourdieu liefern. Kurzum: Ich strenge mich also an. Verkrampfe.

Als ich vier Monate später Hartz IV beantragen muss, da die Einführung der Studiengebühren in NRW zum Wintersemester 2007/2008 den Gedanken an die unendliche Dehnung der Studienzeit zunichte macht und nichts in Sicht ist, als ich plötzlich in der Fortbildung "Excel, Internet, Power Point" sitze, die Betonung liegt auf Internet, während ich am Abend an einem Dissertations-Exposé werkle, das keiner für Geld will, als ich Monate später, zwei, drei, vier, fünf Jobs gleichzeitig habe, mindestens einer unbezahlt, mindestens einer, über den man nicht spricht, als ich Jahre später et cetera, et cetera, hätte es mir einfach wieder einfallen sollen: "Kapitulation".

Press 'play'.

14 February 2017

Das Bad

David Hockney hat das Duschen sexy gemacht. Das habe ich mal gelernt. Denn auf seinen Gemälden aus den Sechzigern ist das Duschen kein bloßer Akt der schnöden Körperreinigung mehr, der in einer kalten Waschkaue erfolgt, sondern ein Wohlfühlakt, etwas, das wie das Baden mit Genuss verbunden ist. Doch neben der verstärkt anhaltenden Huldigung der Körperarbeit im Zeichen der ewigen Schönheit und Jugend schwanken die zeitgenössischen Duscher mittlerweile täglich zwischen phallischer, mega potenter Energieversprechung am Morgen und radikalem Entspannungszauber am Abend – und das alles mittels eines Duschgels. Zweckfreier Hockney'scher Wohlfühlspaß? Genuss? Lust? Ach, keine Zeit.

Doch jedes absolut lebensverändernde Marketingversprechen ist chancenlos, wenn ein verfrühtes Aufstehen, drei Kaffee und eine ausgelesene Zeitung benötigt werden, um den Gang ins Bad geistig vorzubereiten, das vor fünfzig, sechzig (?) Jahren eine großzügig gestaltete Vorratskammer gewesen zu sein scheint, in die dann, damals, als die Trendfliesenfarbe braun war, ein Bad auf zwei Quadratmetern hineingewürfelt wurde (mit Wanne) und im Winter die 30 mal 60 Zentimeter große Heizung nicht gegen zwei Außenwände aus Klinkerstein ankommt. Für Aufmunterung sorgt in diesen schweren Zeiten lediglich der Duschvorhang, auf dem mir kleine Monster täglich entgegenwinken. Der Badaufenthalt wird mit effizienten Handlungen so kurz wie möglich gehalten, auch wenn an besonders kalten Tagen der Durchlauferhitzer beim Duschen dekadent auf Stufe zwei gestellt wird und kurzzeitig eine Minisauna entsteht.

Ich billige die Umstände mit dem Gedanken an die günstige Miete, und dass das Verfügen über ein warmes, zeitgenössisch gestaltetes Bad nun wirklich etwas für Spießer ist. Zudem gibt es fließend Wasser, alles funktioniert und das Bad könnte hervorragend als Panic Room fungieren, als eine noch unbekannte Installation des Künstlers Gregor Schneider angepriesen werden, und nicht zuletzt wird die angenehme Kühle im Sommer geschätzt. Jedoch komme auch ich an die Grenzen meiner Überzeugungskunst. Meistens dann, wenn das soziale Leben es verlangt, Freunde zu besuchen. Bei denen ist immer alles besser – auch das Bad. Also lasse ich mich von der Wirkung geschmackvoller Fliesen einlullen, klimpere mit den Fingern verliebt über den Handtuchheizkörper und erschrecke manchmal auch über meine warmen Füße. Ist das eine Fußbodenheizung? Benommen setze ich mich auf den Badewannenrand und verhindere somit das Unmögliche: das Herumwälzen auf dem warmen Boden. Das könnte nur zu Fragen führen.

In solchen Fällen gilt es: standhaft bleiben, das fremde Bad mit erhobenen Hauptes verlassen, die Tür leise schließen und sich nicht umdrehen. Das gut ausgeleuchtete Spiegelbild muss sofort vergessen werden. Keine Tränen. (Bis zum nächsten Mal. Kisses.) Daraufhin schnell das Gespräch mit den anderen Gästen suchen: über Kultur, Politik, das nächste Projekt, den Job; fragen, was die Kinder so machen. Denn: bloß keine Gewöhnung. Bloß keine Träume. Ich bin stark und Winter nur eine Jahreszeit, die vorrübergeht. Nicht wahr? Denn auf gar keinen Fall darf das eigene Bad saniert werden. Dieser Wunsch muss verhindert werden. Denn das Erfüllen würde bedeuten, dass der Vermieter nach Jahren der Ignoranz – die Rauchmelder wurden gerade noch just in time angeklebt, das Licht im Flur nach einem halben Jahr repariert – mit seinem Maserati vorfährt, die Gürtelschnalle nach dem Ausstieg noch schnell zurechtrückt und sich beim Anblick von zwei im Entstehen begriffenen Neubauten mit Eigentumswohnungen im Umfeld seiner Immobilie fragen wird, ob er ebenfalls in den Trend mit einsteigen soll.

11 February 2017

In der Rating-Hölle

"Ökonomie ist die Methode, Ziel ist es aber, die Seele zu verändern". Der Satz trifft mich, irgendwann Ende Dezember, irgendwo vor Hamburg (vielleicht Schnee), während der als unangenehm empfundene Winkel von Sitz und Lehne im Intercity den Druck auf meine Bandscheiben erhöht. Ich setze eine dünne Bleistiftklammer, während neben mir ein Mann unter seinem Yacht-Magazin erschlafft. Der Bleistiftakt setzte beim Lesen des Gesprächs zwischen Wendy Brown und Isabelle Graw bereits vor dem Margaret-Thatcher-Zitat immer dann ein, wenn das eigene Gefühl in den Worten der anderen bestätigt wurde. "Investiere dich!", lautet der Titel des Textes, der, einer 3D-Animation gleich, im Kopf rotiert: "Investiere dich!"

Ich bin gewiss: Das Subjekt ist sein bestes Werkzeug und alles, was es macht, denkt und fühlt, wird ausschließlich zu Wertsteigerung seiner Selbst eingesetzt: Ausbildung, Beruf, Netzwerke, Beziehungen, Freizeit, Sport schaffen eine finanzialisierte Biografie, die zudem kommuniziert werden muss. Denn "[d]as professionalisierte Selbstmarketing hat es in den inneren Zirkel der Kernkompetenz geschafft", weiß Georg Franck. Auch das noch.

Mit Blick auf meine eigenes ökonomisiertes Leben stelle ich fest, dass ich selbst ein ziemlich schlecht arbeitender Spekulant bin. Kein Bel Ami. Doch unabhängig davon: Zielt dieses Investment überhaupt auf etwas ab, ist es nicht bereits zum Selbstzweck geworden, weil gar kein Endziel vorhanden ist? Das Auf-der-Stelle-treten wird lediglich mit einer Schrottoption (das bessere Leben, von dem alle reden) ausgeschmückt, die nie gezogen werden soll.

Doch der Spekulant ist zwar meistens Dilettant, aber dennoch gereizt vom Unvorhersehbaren: dem optimierten Persönlichkeits-Rating, das was bringt (etwas, von dem alle reden werden). Ein Update. Daher bleibt es im schlimmsten Fall bei der 168-Stunden-Woche (alles inklusive) für alle. In Kauf genommen wird das Fehlen von Zeit und Raum für Fragen, soziales und politisches Engagement, Solidarität, Kaffee und Kuchen, Liebe, Lesen, Schlaf, Musik, Zweifel et cetera, et cetera ... Man einigt sich darauf, Müßiggang, Selbstreflexion, Sabbat, Gammeln sowie Therapien, À-la-carte-Sucht und die ausgebuchten Fight Clubs zu dulden wie die Matrix Neo.

Doch was, wenn das Nicht-Spekulieren, der Ausstieg und die Verweigerung, das simple "Ich kann/will nicht mehr" nicht mit Verachtung und Angst garniert werden? Es wären die Möglichkeiten eines Neins!

5 February 2017

Die Retoure

Wenn man es doch schafft, ein Projekt abzuschließen, nach Jahren der selbst gewählten Folter, dramatisch gesprochen, obwohl man es doch als Genuss empfindet, das Arbeiten an etwas, das Können, das Wollen, das Dürfen, sich die Zeit dafür zu stehlen, und damit das Ziel eigentlich schon erreicht sein sollte, dann folgt darauf gelegentlich ein Vertragsabschluss. Auch wenn es sich, wie in meinem Fall, um eine Dissertation handelt, die, in, ja, ich muss es so sagen, streng limitierter Auflage erscheint und die Druckkosten selbst zu tragen sind – zusammengekratzt, immerhin unblutig.

Wenn wir jetzt annehmen, dass jeglicher Vertragsabschluss, nein, bereits das Lesendürfen eines Vertrags, einem Erfolg gleichkommt, da der Graben zwischen dem Ich und Welt etwas enger wird, so bilde ich mir ein, wird dieses Gefühl leider sofort wieder gedämpft. Grund hierfür ist der Absatz "Verramschung, Makulierung". Vom steten Zweifel abgehärtet, daher beruhigt, stelle ich fest, dass ich für mein Druckerzeugnis bei keinem verkauften Exemplar – und bei Rücknahme meinerseits (Ramschpreis, Versandkosten) – nur ein paar Regelböden* freiräumen müsste. Glaube ich. Hoffe ich. Strenge Limitation sei dank.

Kaum auszudenken, ich hätte in den letzten Jahren eine Band gegründet und hätte überzeugt und sehr stark auf physische Tonträger gesetzt. Natürlich keine Kleinstauflage, sondern 500, nein 1000, nein 2000 Stück, plus zusätzlichem Fanpaket (man hat's ja, woher auch immer) für die fiktiven, aber bestimmt kauffreudigen Fans – denn es war alles so gut und so gewollt, auch wenn nicht drängend genug, oder gerade eben zu drängend. Klar.

Wenn sich dann plötzlich ein Vertrieb bei mir melden würde, würde ich wahrscheinlich nicht mehr auf die Stückzahl achten, sondern nur noch auf das im Anschreiben vermerkte Gewicht. Was dann?

Da ist er wieder: Der Graben zwischen dem Ich und der Welt.

Würde ich alles in den feuchten Keller stellen und mich im Vergessen üben, da ich bereits aus Trotz am zweiten Album arbeite (diesmal nur Kassette)? Würde ich alles säuberlich in der Wohnung aufbahren – die Wände entlang. Würde ich alles heimlich in einem Studio verstecken wollen, irgendwo bei den alten Verstärkern und schwarzen Molton darauf legen (die Leichendecke). Würde ich Freunde fragen, ob sie für ihre Retouren schon Lagerraum angemietet haben? Würde ich auf die Deponie fahren? In die Wüste fliegen (Vergleich Atari)? Und was passiert mit dem Merchandise. Warum wollte bloß keiner diese blauen T-Shirts, die im Ankauf so günstig waren? (Weil wahrscheinlich nur die Kids auf dem Cover zu Washing Machine von Sonic Youth blaue T-Shirts tragen.)

Und wie wäre das Gefühl, wenn die Lieferung kommt und sich darin die falsche Platte befände, da der Vertrieb selbst nur den vollgestopfen Lagerraum freischaufeln lässt?

Was, wenn mein/ein Leben davon abhängt, da es doch kein Hobby war?

Wie klingen eigentlich Todesmelodien?

*(Die Regalböden bestehen aus Pressspan. Daher: Das Camp-Konzept. Ästhetik, Popkultur, Queerness ist ab diesem Frühjahr sicherlich irgendwo zu haben.)

1 February 2017

Verspätete editorische Notiz

Man schreibt dann doch weiter, auch wenn Zeit und Leser fehlen: kleine Kommentare, Glossen, literarische Miniaturen. Im Idealfall wöchentlich. (Das klappt nicht immer.)

31 January 2017

Der Trick

Rihanna oder Beyoncé oder Lady Gaga: Auf der Bühne tragen sie ein Kopf-Mikro, die In-Ears funkeln. Sie haben einen konzentrierten Blick und einen festen Stand. Am Körper: Ein enger Body, die Gliedmaßen umhüllt nichts störendes, Muskeln, Sehnen, gut gesetzte Make-up-Akzente, vielleicht ist Schweiß auszumachen.

Ihre Bilder stehen im Gegensatz zu jenen (Männern), die es mit locker sitzender Kleidung, einem ruhigen Blick, Lässigkeit und herablassenden Cool gerade noch schaffen, das Klinkenkabel in den Verstärker zu stecken, während Bier statt Wasser auf der Bühne verteilt wird.

Die 'Pop-Arbeiterinnen' trinken kein Bier. Sie narkotisieren nicht. Sie investieren. Muss wohl, wie Jens Balzer in Pop. Ein Panorama der Gegenwart schreibt: "Dass sie nicht singen und nicht komponieren können und keine Bühnenpräsenz haben, schadet ihrem Erfolg mitnichten. Wichtiger ist die Effizienz, mit der sie den universellen Mangel* verwalten: Bei ihren Konzerten kann man lernen, wie weit man heute kommen kann, ohne ein 'Ich' zu besitzen."

Doch warum "Ich", wenn sowieso kein Subjekt* im Pop erwartet wird und eine Marke genügt, geschaffen und erhalten durch ein Ensemble, dessen Arbeit auf den 'Star' metaphorisch übergeht und ihn gleichzeitig von dieser erhöht, gar dazu nütze ist, von der Arbeit zu befreien? "Arbeitsverweigende[r] Minimalismus", wie es zu Rihanna heißt. Der unterstellte 'Mangel' führt zu Gewinn.

Der hautenge Body des weiblichen Pop-Kapitals ist keiner. Es ist ein lustig bedruckter, langärmliger Einteiler, der zum hemmungslosen Gammeln einlädt, auch hier ist Bewegungsfreiheit oberstes Gebot, versteckt hinter einer – bildlich gesprochen – zur reinen Form werdenden Busby-Berkeley-Choreografie oder einer, aus ewig leichten Beinen bestehenden, choros line. (Hach, in einem Technicolor-Musical müsste man sich verstecken können.)

Der Body ist also ein Trick, Work Bitch ein geheimer Code der Verweigerung, der erkannt werden muss, indem er sich weiter aufbläht, sich selbst überhöht oder – vereinfacht – am Männerkörper parodiert wird.**

Nachtrag: * bzw. Authentizität; ** funktioniert besonders gut nach Nervenzusammenbrüchen, Gewichtszunahmen, Drogenmissbrauch, missglückten Schönheits-OPs, beruflichem Scheitern.

22 January 2017

Stumpf ist Trumpf

"Stimmt wahrscheinlich alles", überlege ich, hörender- und wippenderweise, affektiv, in das Kommetarfeld zur digitalen Bemusterung von Lieder ohne Leiden zu tippen. Ich halte mich zurück. Bloß nicht zu euphorisch werden, obwohl bereits die Präsentation der ersten Single Eigentumswohnung von Christiane Rösinger zu einem sofortistischen "Ja, ja, ja" geführt hätte, auch wenn die Überlegung einsetzte, wie toll das denn wäre, dieses Wohnen ohne Angst auf Kosten der anderen, um nicht in folgenden Wettbewerb miteintreten zu müssen: "Ich wohne auf 37 Quadratmetern", sagt sie. "Ich auf 32", sagt er. Passender Romantitel dazu: Kabuff revisited.

Doch nun zum Eigentlichen: Sie singt auch über das Lob der stumpfen Arbeit. Nach einem kurzen innerlichen Widerstand gegen dieses Lob, eine Phase von 3:48 Minuten, die gefüllt ist mit den üblichen Vorurteilen gegenüber der dominierenden zeitlichen Arbeits- und Freizeittaktung, der Redundanz der Tätigkeit, der Optimierung der Abläufe mit anschließender Erlebnissucht, setzt beim zweiten Hören und Zuhören ein zustimmendes, äußeres Nicken ein. "Der Fluch dieser Tage ist die kreative Plage [...] Den Markt bedienen, ohne was zu verdienen [...] Sich selbst ausbeuten, und das auch noch mit Freuden [...] Nach all den Jahren ist es so weit, ich sing das Lob der stumpfen Arbeit."

Der biografische Abgleich ist selbstredend: erfolgreich. Benutzt, beschämt, verzweifelt, sitzt man da und hört zu, im antrainierten Überlebensmodus: ich bin unerschöpflich. Daher fällt das Resümee zunächst zugunsten der "stumpfen Arbeit" aus, weil damit wohl eine Tätigkeit einhergeht, die sich dem Kreativitätskomplex und ihrer neoliberalen Verzahnung entzieht. Ausstieg durch Gewöhnlichkeit. Stumpf ist Trumpf.

Doch was, wenn die "stumpfe" Tätigkeit nicht nur ausgleichendes Hobby bleibt, das man sich leisten kann? Der Trendwunsch geht daher nicht zum Ausmalbuch, sondern zu einem - oder irgendeinem - Teilzeitjob, um somit den kreativen und ökonomischen Dauerdruck für 20 oder 30 Stunden in der Woche vom Cortex zu nehmen. Doch wenn die Chance dazu überhaupt besteht, dann ist die erarbeitete Freizeit schnell wieder gefüllt: weil das Geld oft nicht reicht und/oder weil das verinnerlichte Selbstverwirklichungs- und Kreatvititätsdispositiv zur Umschreibung der eigenen Biografie zwingt. Dann, wenn’s sein muss (ja, es muss sein) gerne ohne Rechnung. "Denn draußen ist alles da, auch wenn es niemand bezahlt hat" (eine andere Band).

"It’s a trap".

14 January 2017

Die Matratze

Angelika Taschen hatte im Gespräch mit Dagmar von Taube recht: "Man schläft heute besser vor einer nackten Wand", rät die Verlegerin, bevor sie beiläufig zur scharfen Kulturdiagnose ansetzt: "Schlaf ist das neue Gold!". Denn Schlafort und der Schlaf selbst sind die neue Insel der Rettung, das Luxusressort des Alltags. Neben dem Kassenschlager "Boxspringbett" sind vor allem Matratzen begehrte Insignien.

Der Höhenflug des ominösen Boxspringbettes scheint jedoch vorbei, denn mit einem Preis ab 250 Euro strudelt der Sog der Verramschung. Das Kokettieren mit dem Erwerb eines solchen ist, wenn, dann nur noch aus weiter Ferne im epischen Präteritum zu hören. Die Tür zum Schlafzimmer bleibt wieder geschlossen.

Die Schlafqualitiät kann somit nur noch mit dem Erwerb einer Matratze gesteigert werden, die inklusive Namen und exklusivem Narrativ dargeboten werden.

Also: noch besser schlafen, nur noch schlafen, wenn wach, dann nur noch lümmeln, der Zeit zuhören, sich selbst beim Altern zuschauen, nur noch Staub ansetzen, zentimeterdick, hin und wieder sich und die Matratze wenden, bloß, auf gar keinen Fall, sprich: nie wieder, sitzen (eh zu gefährlich)? Kein draußen. Die Augen verkleben lassen.

Oder doch bloß wieder: effizienter schlafen? Schlaf mit der Vorstellung eines besseren Aufwachens, des besseren Aufstehens? Oder aber: schlafen an sich? Luxussanierung zur Förderung von Seltenheit? Denn sie flüstern: "Wie schaffst du es, dir noch Schlaf zu gönnen?", "Es schläft doch schon seit Jahren nichts mehr", "Wann hast du zuletzt dein Handy ausgeschaltet?". Die kleine, rote Stand-by-Lampe an der Anlage sorgt nur noch in der Erinnerung für innerliche Aufregung, bis entnervt der Kippschalter in Gedanken betätigt wird (schwaches, entsättigtes Bild).

Beim Nachdenken über die Rolle des Schlafens zwischen menschlicher Notwendigkeit und letzter Festung gegen eine neoliberale Wirtschaftsethik – wer schläft, arbeitet nicht – steht sie vor dem VW-Sprinter: "Einfach oben auf die Möbel legen". Sagt er andernorts: "Erst mal auf den Boden werfen". Ausrufe des oszillierenden Individuums. Denn im Gegensatz zum Boxspringbett, das durch seine Klotzigkeit und der damit verbundenen albtraumhaften Vorstellung des Ab- und erneuten Zusammenbauens, Sesshaftigkeit kommuniziert, erleichtert die Matratze den steten Ortswechsel. Im Idealfall: gerollt.

"Der Rest kommt nach."