26 March 2017

Die letzten Raucher

Fragenbogen für einen fiktiven Protokollband

Beschreiben Sie den Moment, als Sie mit dem Rauchen angefangen haben.

Haben Sie das Rauchen von Beginn an offen ausgelebt oder geheim gehalten? Welche Faktoren haben zu letzterem geführt?

Haben Freunde und/oder Familienmitglieder bereits geraucht und, wenn ja, wie haben Sie das Rauchen wahrgenommen?

Welche Eigenschaft verbinden Sie mit dem Rauchen?

Wie viele Zigaretten rauchen Sie täglich?

Der Konsum von Alkohol kann das Rauchverlangen verstärken. Nennen Sie eine Situation, in der sie nach einer Zigarette ‚richtig’ betrunken waren.

Welche Art von Zigaretten bevorzugen Sie und warum (gedreht, gestopft, industriell hergestellt)? Was soll das über Sie aussagen?

Haben Sie sich in Ihrer Raucherkarriere schnell für eine Marke entschieden? Um welche handelt es sich? Welche Faktoren waren für die Wahl wichtig?

Wie transportieren Sie Ihre Zigaretten: Schachtel, Softpack oder Etui?

Beschreiben Sie Ihren Rauchstil: vom Herausholen/Drehen der Zigarette über das Legen der Zigarette an die Lippe/in den Mund, das Anzünden, die Art des Haltens bis hin zum Aschen und Ausdrücken.

Ist Ihr Stil beeinflusst durch Bilder oder Personen des öffentlichen Lebens? An wen denken Sie?

Können Sie eine Filmszene beschreiben, in der geraucht wird?

Mögen Sie Menschen mehr, die ihre Zigarette im gleichen Stil halten wie Sie?

Welchen Rauchstil lehnen Sie ab?

Wie ist Ihre Position zu Bio-Zigaretten und/oder E-Zigaretten, sog. Verdampfern?

Verfügen Sie über kultische Rauchutensilien (schöne Aschenbecher, edle Feuerzeuge, ein Smoking Jackett, Zigarettenspitze) und warum?

Ist rauchen für Sie männlich, weiblich oder androgyn?

Wann empfinden Sie rauchen als schön und wann kippt der Akt für Sie in Hässlichkeit um?

Ist diese Wertung abhängig vom Geschlecht, vom körperlichen Zustand und sozialen Status des Rauchenden?

Was denken Sie, wenn Sie ein Foto von Michel Houellebecq sehen?

Sind Sie süchtig? Wenn ja, in welchem Moment haben Sie sich diese Diagnose gestellt?

Wie ist Ihre Haltung zur Sucht?

Verbinden Sie mit dem Rauchen ein besseres Alleinsein oder die Fähigkeit des Schaffens von Geselligkeit basierend auf dem gleichmacherischen Akt des Rauchens?

Wo rauchen Sie am liebsten?

Wann waren Sie das letzte Mal froh Raucher zu sein?

Geben Sie von Ihren Zigaretten gerne welche ab?

Teilen Sie sich gerne mit einer Person eine Zigarette? Was muss diese Person auszeichnen? Ist diese Form des Teilens eine Form von Intimität?

Küssen Sie gerne?

Mögen Sie den Geruch des Rauchs? Oder machen Sie etwas dagegen?

Würden Sie sich als besonders reinlich beschreiben?

Haben Sie das Rauchen jemals bereut? Ist diese Reue nur auf Sie gerichtet oder wird das Gefühl auch durch andere ausgelöst?

Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Kinder mit dem Rauchen anfangen würden?

Haben Sie bei einem Arztbesuch schon einmal über Ihr Rauchverhalten gelogen? Wenn ja, warum? Und glauben Sie, dass Ihr Arzt die Lüge erkannt hat?

Was geht Ihnen bei einer Blutabnahme durch den Kopf?

Haben Sie mit dem Rauchen aufgehört? Was hat dazu geführt?

Wie würden Sie die Rolle der Angst beim Wunsch mit dem Rauchen aufzuhören einschätzen?

Sind Sie/wären Sie froh über Abstinenz?

Halten Sie manchmal eine Zigarette, ohne sie anzuzünden?

Wenn Sie mit dem Rauchen aufgehört haben: Vermissen Sie es?

Sind Sie gesund?

16 March 2017

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017
Die Tiefpunkte

(Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 erscheint
monatlich auf Minusvisionen.)

Ich bin von Januar bis Oktober 2008 arbeitslos. Ich erhalte Arbeitslosengeld II. Vom 1.1. bis zum 30.6. bekomme ich monatlich 664,64 Euro. Ab dem 1.7. bis Oktober sind es 668,64 Euro. Die darin enthaltene Höhe zur Sicherung des Lebensunterhalts beträgt zu diesem Zeitpunkt 347 Euro. Abzüglich der Kosten für Strom, Festnetz, Internet, Handy, Monatsfahrkarte sowie für zwei bis fünf Bewerbungen monatlich verbleiben mir durchschnittlich 160 bis 180 Euro zum Leben. Hin und wieder frage ich meine Mutter nach 20 oder 50 Euro sowie nach Lebensmitteln per Post, in Abständen verdiene ich mir 50 bis 100 Euro bar durch einen Nebenjob dazu.

Ich wohne allein. Ich spreche daher wenig, insbesondere nachdem die sogenannten Fortbildungen abgeschlossen sind. Wenn keine Anrufe erfolgen: bis zu einer Woche – gar nichts. Ich hätte damals auf Minusvisionen ein Protokoll führen können. Ingo hätte das sicherlich gefallen. Doch das kommt mir nicht in den Sinn. Die Blog-Einträge werden Ende 2007 bis 2008 immer öfter sehr kryptisch. Es gibt kein außen mehr.

Am 6. Juni 2008, an meinem 26. Geburtstag, bekomme ich die DVD zu Fassbinders Angst essen Seele auf geschenkt. Ich sage: "Toll". Und bedanke mich.

Der Bildungsgutschein

Ich bin in einem kleinen Raum innerhalb eines Gebäudes mit Klinkerfassade angekommen. Ich werde nun verwaltet. Noch darf ich den Haupteingang nehmen, später wird es ein Seiteneingang für ALGII-Empfänger sein. Damit ich nicht vergesse, wo ich stehe: am Rand.

Ich werde in diesem kleinen Raum keine Eingliederungsvereinbarung unterschrieben. Denn ich erhalte sofort einen Bildungsgutschein. Das Symbol für das großes Geschäft zwischen der Arbeitsagentur und der jeweiligen Bildungsträger. Das goldene Ticket. Denn für Staat und Bildungseinrichtung ist es eine Win-win-Situation: der Träger verdient, die Arbeitsagentur muss mich nicht als 'arbeitslos' führen.

Ich befinde mich also in einer Weiterbildung. Diese besteht zunächst aus einem dreimonatigen Kurs für "Business English", den ich täglich von 8 bis 15 Uhr besuchen muss. Nach dem ersten Monat werden die Inhalte wiederholt, weil stets neue Teilnehmer in den Kurs kommen. Jeder hört somit alles drei Mal. Jeder besitzt jegliche Arbeitsblätter in dreifacher Ausführung. Jeder hatte die Chance, drei Mal seinen Text aufzusagen. Es scheint fast ein ästhetizistischer Ansatz vorzuherrschen. Auf Business English folgt der vierwöchige Kurs "Excel, Internet, Power Point". Mir wird unter anderem die Google-Bildersuche erklärt.

Der Körper

Ich habe zu Beginn der Fortbildung zwei Wochen lang Magenschmerzen. Ein neues Gefühl. Kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Auch wenn ich das Bedürfnis nach einer Krankschreibung habe, suche ich keinen Arzt auf.
Im Laufe des Jahres schlafe ich abends immer schlechter ein. Ich spüre mein Herz, deutlich, manchmal zu stark, so als hätte ich ständig zu viel Weißwein getrunken. Ich google. Ich verunsichere. Nach Monaten werden ein Langzeit-EKG und ein großes Blutbild gemacht. Nichts. Ich bin beruhigt. Ab 2009 werden die Symptome seltener.

Die Paranoia

Ich wohne in einem Erdgeschoss in einer Einzimmerwohnung zur Straße hin. Jeden Morgen stehe ich weiterhin um 7.30 Uhr auf. Ich gehe zum Fenster und ziehe meine Rollläden hoch. Nach diesem Vorgang gehe ich wieder ins Bett. Bleiben die Rollläden zu lange unten, bilde ich mir ein, dass jeder weiß, was los ist. Ich befinde ich mich dann in Die innere Sicherheit mit im Wagen der Flüchtenden, die an einer Kreuzung bei Rot halten müssen und jedes bremsende Auto um sie herum eine potenzielle Gefahr darstellt, hochgenommen zu werden. Doch die Autos fahren. Ich bleibe liegen. Die Position meiner Rollläden interessiert keinen.

Die Verzweiflung

Es ist Dienstag, Mitte Oktober 2008, die Lehman-Brothers-Pleite liegt einen Monat zurück. Ich stehe um 5 Uhr morgens an einem Gleis des Bochumer Hauptbahnhofs und warte auf einen Regionalexpress. Ich habe einen Job in Paderborn angenommen, für den ich um 4 Uhr aufstehe, um pünktlich zu sein. Grund: die einzige Zusage. Ich bin müde. Drei Tage in der Woche werde ich nun müde sein. Müdigkeit schmerzt. Nach einem halben Jahr stehe ich eine Stunde später auf. Die Müdigkeit wird bleiben.

Die Rückzahlung

Ende Oktober erhalte ich mein erstes Gehalt. Am 5. Januar 2009 erfahre ich, dass dieses an die staatlichen Leitungen angerechnet wurde, die ich Ende September für Oktober erhalten habe. Ich muss die Leistungen für Oktober fast vollständig zurückzahlen: 632,92 Euro. Ich spreche persönlich vor. Man verstehe die Problematik. Es wäre bedauerlich. Ich hätte mir meinen Lohn halt zum 1.11. überweisen lassen sollen.

Der Preis

Mitte 2008 reiche ich eine Kurzgeschichte zu einem Literaturwettbewerb in Bochum ein. Das Motto lautet: "Geld schreibt". Mein Text schafft es unter die letzten Zehn, die bei einer Lesung Ende 2008 von den Autor*innen vorgetragen werden sollen. Dort darf dann das Publikum abstimmen. Da Freunde anwesend sind, schaffe ich es auf den dritten Platz. Mein Text wird in einer Anthologie veröffentlicht.

Auf meiner Urkunde steht, dass ich 200 Euro Preisgeld bekomme. Leider muss ich mir den Preis mit jemandem teilen. Das erfahre ich erst später, als ich die 200 Euro durch die Leihgabe eines Freundes schon längst ausgegeben habe. Denn ich wollte damals nach Berlin. Ich wollte in der Galerie Zern der US-Armee beitreten*.

*Ingo Niermann, Join the U.S. Army, 31.10. – 14.11.2008, Galerie Zern, Berlin