Eigentlich läuft es. Ja, es läuft. Damit meinte Ida die kleine Rechnung in ihrem Kopf. Es gibt keinen Grund sich zu beschweren, ermahnte sie sich. Das ist doch gut.
„So eine Scheiße“, murmelte sie plötzlich vor sich hin, als sie erneut drei Zeilen aus einem Textdokument gelöscht hatte. Vor ihr war jetzt wieder zu sehen: eine weiße, leere Seite. „60 Minuten für nichts“, sagte sie kopfschüttelnd. Ein Verlustgeschäft. Ermüdet klappte sie den Laptop zu und fiel schlaff in den Stuhl. Sie kapitulierte. Ihre Kaffeetasse hielt einen kalten, krümeligen Schluck bereit.
Es sollte ein Beitrag über die Schließung einer Erinnerungsstätte in Bochum werden. Das hatte sie Andreas von Your Daily Content versprochen, der es irgendwie bringen wollte. „Komm, die paar Euro tun euch nicht weh“, betonte sie. Doch das Thema hatte eigentlich keine Aussicht auf Erfolg. Nachdem Teile der Region „aus bisher unbekannten Gründen“, wie es überall hieß, versackt waren, und die Spekulationen über eingebrochene Stollen und explodierte Weltkriegsbomben keinen mehr interessierten, wurde selten aus Ruhrstadt berichtet. „Zu depressiv. Können wir nicht machen“, hieß es eigentlich immer. „Klickt keiner“, wäre die richtige und ehrliche Antwort gewesen. „Keine Reichweite, zu lokal“, auch eine Möglichkeit. Sie machte es trotzdem und stellte sich ein großes Loch vor, an dessen Rändern sich die Menschen, Tiere und Pflanzen neu eingerichtet haben und auf ewig hinabstarren – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Sie kippelte auf ihrem grauen Kunststoffstuhl hin und her, und sammelte die abgekauten Fingernägel rechts neben dem Laptop. Die seit Monaten gleich bleibende Sonne schien gelblich in ihr Zimmer und provozierte einen kurzen Blick aus dem sonst mit Decken verhangenen Fenster.
500 Kilometer westlich schloss Karin eine Werkhalle auf. Über dem Eingang thronte ein Logo aus Kreis und Blitz, das sie stets mit einem respektvoll nostalgischen Blick die Ehre erwies. „Opel Bochum – Eine Erinnerungsstätte für das 20. Jahrhundert“. Das gaben die hysterisch flackernden Leuchtbuchstaben nur noch selten her. Es folgte, wie jeden Tag, ein Kontrollgang über den dazugehörigen Parkplatz. Das war’s. Kasse und Eintrittskarten holte sie nicht mehr heraus. Die Texte für ihre Führungen vergaß sie langsam.
An einem Tag hörte Karin nach Jahren wieder eine Stimme nach ihr rufen. Ida stand am Eingang und schaute sich um. Die Luft war ausgesprochen gut, dachte Ida, so wie es in alten Reiseführer stand. Als sie ihre Schuhe inspizierte, neue Novembersandalen, bewegte sich plötzlich etwas im Grün. Doch Ida konzentrierte sich so stark auf Karin, die ihr mit einer Taschenlampe entgegenkam.
„Ida Gloger. Wir hatten telefoniert.“
„Haben sie den Weg gut gefunden?“
„Ja, ich bin auf den ausgeschilderten Sonderrouten geblieben.“
„Weswegen sind Sie hier?“, versuchte Karin das Thema zu wechseln.
„Die Schließung Ihres Museums.“
„Erinnerungsstätte.“
Sie verließen die Halle und gingen stumm ein paar Schritte. Besucher konnten das ehemalige Werk begutachten, verschiedene Produktionsstätten ablaufen, mitmachen, dieses besondere Feeling aufbauen und wenn sie wollten, in ein Auto steigen und damit herumfahren. Früher auch noch durch die Stadt.
„Durften die selbst fahren?“
„Ja. Wollen sie mal? Kadett, Zafira oder Astra?“
Ohne zu überlegen, zeigte Ida auf einen roten Opel Kadett B Coupé. Karin lachte und gab Ida den rostigen Zündschlüssel mit einem Anhänger aus kleinen, gestapelten Miniaturreifen, der an ein Kunstwerk von Allan Kaprow erinnern sollte. Kaprow hatte 1979 einen 15 Meter hohen Turm in Form eines monumentalen Schaltknüppels aus alten Autoreifen für die 6. Kunstwoche des Ruhrpark Shopping Centers konzipiert, wurde ihr erklärt. „Nach seiner Errichtung von Unbekannten abgefackelt, einfach so“, beendete Karin den Exkurs.
Während der Fahrt lachten beide überraschend viel. „Auto fahren“, schüttelte Ida den Kopf, als sie vergnügt ihre Runden drehten.
„Und was wollen Sie machen, wenn das hier abgerissen wird?“
„Keine Ahnung. Sie verdienen doch mit Schreiben ihr Geld?“
„Ja“, antwortete Ida.
„Das geht?“
Das war die übliche Reaktion. Denn sie hatte nur einen Roman im Self-Publishing herausgebracht und einige wenige Reportagen an die letzten Zeitungen verscherbeln können. Der Rest bestand aus sogenannten Inhalten, die oft mit Lebensmittelgutscheinen vergütet wurden. Miete und anderes berappte sie mit Jobs. Jeder weiß, was damit gemeint ist.
„Es sind Texte zu avantgardistisch strukturierten Wattepads, einer Hämorrhoidencreme mit neuem Duft, blöden Digital Pens und Bedienungsanleitungen zu diesem Self-Tracking-Kram“, gab sie Karin einen Einblick.
„Soll ich Ihnen etwas zeigen?“, fragte Karin, nachdem das Auto wieder abgestellt war. Ida nickte und knibbelte nervös an ihrer Nagelhaut. Als sie zurück in der Halle waren und das Oberlicht angeschaltet wurde, erkannte sie, dass die Innenwände akkurat mit Nummern und Datumsangaben beschrieben waren.
„Das sind Ölpreise. Seit 1973.“
„Wie lange arbeiten Sie schon daran?“
„Der letzte Besucher kam vor fünf Jahren.“
„Doch ein Archiv.“
Vor ihrer Abfahrt wanderte Ida durch einige „Belebte Zonen“. Hin und wieder zückte sie ihr Smartphone, machte Bilder. Eine Anwendung legte alte Aufnahmen wie eine Folie über ihre. „Heute“. Ein Fingerwisch. „Damals“.
An einer Absperrung blieb sie zunächst stehen. „Vorsicht Raubkatzen“, mahnte ein Schild. Sie runzelte die Stirn und ging weiter in Richtung einer Aussichtsplattform. Ihr Herz schlug schneller als sie in ein großes Loch hinabblickte. Für einen Moment glaubte sie, Lichter tief unten in der Erde zu erblicken. Blickende Lichter, flackernde Lichter, leuchtende Buchstaben. Hörte sie Stimmen? Sie sprach leise, sich lebst fragend, vor sich hin, blickte auf und meinte am gegenüberliegenden Rand des Kraters einen Löwen sitzen zu sehen.