24 April 2017

George / Hibiscus

Aufnahmen von Demonstrationen, hunderttausendfach geteilt, millionenfach geliked, häufig auch dann, wenn Lebendiges auf Erstarrtes trifft, weich-fließende Alltagskleidung auf harte Schutzausrüstung oder eine einzelne Person einer Menge selbstbewusst gegenübertritt. So wäre es heute auch jenem Foto ergangen, das 1967 in Washington D.C. aufgenommen wurde, im Augenblick des Hypes unwissend, dass sich die zentrale Person auf dem Foto wenig später für eine andere Protestform entschieden hatte, mit der alle Gegensätze aufgelöst werden sollten.

Es muss ein freundlicher Tag gewesen sein, als sich der vom National Mobilization Committee to End the War in Vietnam initierte Protestzug am 21. Oktober 1967 in Richtung des Pentagon in Washington D.C. bewegt hat. Fotos zeigen, wie sich die Sonne auf dem Wasser des Lincoln Memorial Reflecting Pool bricht – oder ist es doch der Teich des West Potomac Park, wo die Demonstration startete? – Hemden, Blusen, leichte Pullis und Jacken; keine Schals.

Der 18-jährige George Harris III. aus New York hatte sich an diesem Tag für einen weißen Strickpullover entschieden, als er in Washington Halt machte. Ein geplanter Stopp? Ein Intermezzo? War er schon länger vor Ort? Denn im Herbst 1967 reiste er zusammen mit den Autoren Irving Rosenthal und Peter Orlovsky nach San Francisco. Zuvor lebte er drei Jahre mit seiner Familie in New York, wo er Schauspielunterricht nahm, neben Rosenthal auf Jack Smith traf und in dem Stück Gorilla Queen des Theatre of the Ridiculous von Charles Ludlam mitspielte.

Als der Protestzug das Pentagon erreicht hatte, warteten dort bereits Soldaten des 503rd Military Police Battalion. Ein Kader formte einen Halbkreis um die Demonstranten, zingelte sie ein. Auf dem Foto, das unter dem Namen Flower Power berühmt wurde, steht George den Soldaten gegenüber, die ihre Gewehre im Anschlag haben. Er umfasst einen kleinen Strauß Nelken mit der linken Hand und steckt einzelne Blumen mit seiner rechten in die Gewehrläufe. Der Fotograf Bernie Boston hält den Moment fest.

In San Francisco angekommen, die Hippie-Bewegung hatte mit dem Summer of Love ihren Zenit bereits überschritten, schloss sich George der Kaliflower-Kommune von Irving Rosenthal an und gründete später die Cockettes – bekannt für ihren "Alien Glamour" (Mike Kelley), bekannt für ihre Bühenshows und die Schaffung eines alternativen sozialen Raums abseits bestehender Normen – und darauf die Angels of Light.

George wurde Hibiscus: ständig auf LSD, in alte Kleider und Tücher gehüllt, Pailletten im Bart und opulentes Make-up tragend, ruinöser Drag – genderfuck heißt es im Zusammenhang der Cockettes erstmals –, barfuß auf den Straßen gehend. Er hatte sich von einem "preppy pacifist, all floppy blond fringe and chunky roll-neck sweater"-Typen der Ostküste in eine glitzernde, exaltierte Kunstfigur verwandelt, wie sie nur an der Westküste möglich schien. "Things are looser in the west".

Er war ein "Jesus Christ with lipstick".

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