Berlin ist ein stummes Standbild mit bestreikten Sonntagsstraßen um 21 Uhr. Die Stimme zum Bild hat einen starken anhaltinischen Akzent. Nach dem mitleidsvollen "Thank you for travelling with Deutsche Bahn" erinnere ich mich, dass ich meinen originären Dialekt verloren habe. In welchem Mund ich ihn spuckte, weiß ich nicht mehr. Der Verlust kam dem Austausch des eigenen Bildes gleich. Im Visier immer der befreite Klang. Bevor ich am Ostbahnhof aussteige, dringt der Geruch von frisch gewaschener Wäsche aus meinem Rucksack zu mir durch. Da ich Berlin nicht hören kann, mache ich die Stadt zu einer Wiese im Frühling. (Anfang des Minusvisionen-Eintrags I lost my De:Bug in Moabit (1), März 2008)
Mein kulturelles Jahr 2008 endet damit, dass ich an einem Oktoberabend in der Galerie Zern in die US-Armee eintrete und mich durch die Anreise verschulde. Es werden – trotz Spartickets – wie nach allen Fahrten in dieser prekären Zeit, für die ich mich beim Arbeitsamt hätte abmelden müssen, also sehr dürre Wochen folgen, die lieblich-bitter nach Nudeln mit Zucker schmecken. Hin und wieder ein Päckchen mit Lebensmitteln in der Post samt einer Tafel Schokolade in wiederverschließbarer Verpackung darin, in der 20 Euro stecken.
Von jenem Army-Abend bleibt ein digitales Foto vor weiß-roter Flagge als Beleg und die Hoffnung, dass das alles nur ein Scherz war. Im heißen Juni 2007 bestand das Relikt Marke Berliner Semiotik noch aus drei iranischen Münzen, die mir Christian Kracht am letzten Abend der Wissenschaftsakademie in die Hand gedrückt hatte.
Identität wiegt schwer. Ich trinke auf meine schicksalhafte Tat und ihre Folgen in der Bar Babette, wo eine Veranstaltung des Verbrecher Verlags stattfindet. Doch ich bin ausnahmsweise nur wegen der Getränke dort. Ich lese wenig. Bücher sind teuer. Essen auch. (Ich erinnere mich für 2008 nur an Leihgaben aus der Stadtbibliothek oder von Freunden wie Lyrische Novelle von Annemarie Schwarzenbach, Ein Gast und Das Bad von Yoko Tawada, vielleicht noch etwas von Truman Capote, der 2007 prägte. Ich kaufte Softcore von Tridad Zolghadr sowie Lunar Park von Bret Easton Ellis als Mängelexemplar. Dann hört die Erinnerung auf.) Die Nacht ist kühl und trocken. Das Taxi billig. Im Gepäck habe ich das Ausstellungsplakat zu Join the U.S. Army, das mit Lippenstift signiert wurde und deren Herstellung Erik Niedling gesichert hatte.
Nach einer Übernachtung bei Schulfreunden in der Nähe des Frankfurter Tors empfiehlt mein überteuerter Moleskine-Taschenkalender (Softcover) für den 2. November einen Besuch in der Galerie MD72 und einen Gang in die Temporäre Kunsthalle. Ich folge der Notiz und besuche die Galerie, weil ich hoffe, The Wishing Machine betätigen zu dürfen. Ich hab's nötig. Im April saß ich bereits auf einem Brandenburger Schloss vor einer Dreamachine und folgte dort dem Flickern auf meinen Lidern. Keine Drogen. Keine Vision.
Zurück in der MD72: Ich darf. Ich schreibe den Wunsch auf einen Zettel und lege diesen in einen kleinen bräunlichen Kasten mit Antenne. Ich bediene einen Kippschalter. Klack. Ein Lämpchen leuchtet auf. Die Maschine läuft. Klack. Vorbei. Nichts. Berliner Herbst. Immer noch nicht reich. Auf knarzenden Parkett verlasse ich den Altbau, einem Paar im Partnerlook folgend.
In der blau-weißen Temporären Kunsthalle auf dem Schloßplatz wird die Ausstellung Inner + Outer Space von Candice Breitz gezeigt. Es ist voll. Touristen wie ich. Gefühle und somit eine Erinnerung bleiben beim Blick auf installierte Bildschirme aus, immerhin gibt es draußen noch wenige stählerne Reste des Palasts der Republik zu suchen.
Bei diesem wiederholten Gang durch Berlin trage ich den selben Secondhand-Wollmantel wie am 10. März, als im Hebbel am Ufer die Pyramiden-Gala stattgefunden hat. Jener zweite Höhepunkt des Projekts Die Große Pyramide – ein Grabstädte für die Menschheit als Infrastrukturmaßnahme – nach dem Pyramidenfest 2007 am damaligen potenziellen Entstehungsort Streetz/Natho. Wurde jener Tag eingeleitet durch die Spielmannszugversion von The Final Countdown, versprach das Programm in Berlin folgende Mischung: Rem Koolhaas, Momus, Jens Friebe und und und.... Aftershow mit Carsten Jost im WAU.
Alle waren da. Großes und Kleines Hallo. Zuprosten.
Ich kann mich kaum an etwas erinnern. Ein Gefühl von Hilflosigkeit. Ich trinke allein. Ich habe das schwarze Kleid wie später im April in Brandenburg getragen.
Durch Irmgard Keun geschult, bin ich erleichtert, dass mein Wollmantel nicht der Feh aus dem Roman Das kunstseidene Mädchen ist. Es ist noch Luft nach unten oder oben. Und ich bin weder in einem Wartesaal noch in Berlin oder Köln, aber irgendwo dazwischen und schreibe sinnlose Bewerbungen ("Bitte bewerben Sie sich nicht mehr", heißt es einmal).
Ich werde mich und meinen Mantel später nur auf einem kleinen, dunklen Foto erkennen, das in meinem Facebook-Newsfeed auftaucht. Im Moment der Aufnahme muss der Fotograf auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden und seine Kamera auf das HAU gerichtet haben. Ich hätte das liken können.
(Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 erscheint monatlich auf Minusvisionen. Die Form bleibt unbestimmt.)
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