22 April 2020

Eitelkeit ist eine Strategie

Skype, WhatsApp, Zoom – oder doch einen anderen Anbieter wählen? Sofern das Gesicht als das oberflächliche Identitäts-Billboard mal ohne Mund- und Nasenschutz gefordert wird, scheint das in Pandemiezeiten mit Kontaktverbot die Frage der Stunde zu sein, die neben dem steten Grübeln über den Datenschutz – flankiert durch die paranoide Frage, ob die Videoüberwachung nun von außen nach innen gewandert sei – zu Überlegungen wie diesen führt: Ziehe ich mich an? Was ziehe ich an? Business, Smart Casual, zum Spaß Black Tie oder Abendrobe? Muss ich mich für die nächste Schalte schminken – gar die Haare machen? Und vor allem: Wo stelle ich den Computer auf? Auf den Schreibtisch – mit oder ohne überlegt vollgestopftes Regal im Hintergrund? Küche? Balkon? Wohnzimmer? Was, wenn der Wohnraum lediglich aus einem Zimmer besteht? Ist dieses schrecklich unaufgeräumt, zeichne ich dann lieber den Hintergrund weich oder wähle ich aus einer Vorlage?

Während mehrmals am Tag mit tiefen Skepsisfalten auf der Stirn die Aufkleber von den Kameras geknibbelt werden, die eigenen Zeichen genauestens verwaltet und die empfangenen wie eh und je dekonstruiert werden, und einige Köpfe den finalen Siegeszug der Videotelefonie zu beobachten scheinen, weiß die Literatur wie immer mehr. So beschreibt David Foster Wallace in Unendlicher Spaß auf mehreren Seiten durch Eitelkeit beförderten "Videophoniestress", der für einen Boom von Videophonmasken und digitalen Tableaus sorgt, die schließlich zum Niedergang der Technik führen. In seiner Fiktion wird nicht gefragt "Was geschieht mit meinem Bild", sondern "Wie komme ich an?". Eitelkeit fördert eine Identitätstravestie, Gesicht- und Körper-Variationen werden nach Belieben an- und abgelegt, wie es einige Filterfunktionen außerhalb der Literaturen längst können.

"Im vorliegenden Fall führte die Evolution der Stress- und Eitelkeitskompensationen dazu, dass Videophonnutzer zunächst ihre eigenen Gesichter ablehnten, dann sogar ihre bis zur Unkenntlichkeit maskierten und digital bearbeiteten Ebenbilder und schließlich die Videokameras in toto abdeckten und den TPs ihrer Gesprächspartner nur noch attraktiv gestylte statische Tableaus übermittelten. Hinter diesen Objektschutzdioramen und gesendeten Tableaus waren die Teilnehmer plötzlich wieder stressfrei unsichtbar, hinter den Star-Dioramen konnte man wieder eitelkeitsfrei ungeschminkt, toupetlos und tränensackverschandelt sein, man hatte – da wieder unsichtbar – die Freiheit zum Kritzeln, Pickelprüfen, Maniküren und Faltenchecken zurückgewonnen […]."

Unsichtbar, da steht es, ein – wie "systemrelevant" oder wenigstens "normal" – lange nicht mehr ausgesprochener, unerreichter Zustand, der durch Mund- und Nasenschutz, denn plötzlich wird dieser fester gezurrt und das Ablegen verweigert, die Gedanken kitzelt, wenn schon Smartphone und Computer nicht mehr abgeschaltet werden können.