Die Erinnerung ist ein Bild. Sie verblasst langsam, meistens unmerklich, aber kontinuierlich, indem Details zwischen den kräftigen Rändern im geschaffenen Bild verloren gehen, die Farben sich verändern und die Schärfe des verlorenen Inhalts einem diffusen Gefühl weicht, das man beim Halten oder Erinnern verspürt.
Doch wenn bei dem einen Produkt ein Blick auf das Thermostat und die Restauration helfen kann, verbleiben im Kopf irgendwann nur Sequenzen, Momente, Augenblicke, die einem Traum gleichen, da man sich weder an den Anfang noch an das Ende erinnern kann.
Oftmals verleitet der Akt des Erinnerns dazu, sich die großen positiven als auch negativen Momenten zu vergegenwärtigen, so gut wie es das Gehirn eben zulässt. Peinlichkeiten, heimliche Verschrobenheiten, gepflegte Splins und Leidenschaften, oder eben all der Blödsinn, keimen nur hin und wieder auf, und verblieben letztendlich eine unausgesprochene Anekdote, die sich in einem stillen Lächeln zeigt.
Doch heutzutage zeichnet sich die medial aufbereitete Erinnerung durch einen hohen Grad an Gleichberechtigung aus: das große und kleine Ereignis changiert neben dem gewöhnlichen oder dem eigentümlichen Erlebnis. Die öffentliche Zurschaustellung von Eigentümlichkeiten kann sogar zum Tages- oder Wochenhit werden. Umso sonderlicher desto besser; sonderlicher, skurriler... trash, trash, trash. Womit ich beim ersten Stichwort wäre, oder bei der Frage, wie ich versuchte, etwas für die Natur zu tun, aber an dem falschen Verständnis von "sauberer Umwelt" scheiterte.
Irgendwo im Osten Deutschlands, 1990: Vielleicht waren es noch die Auswirkungen des staatlich geförderten Wertstoffsammelns, das in meinen ersten Abschlusszeugnis im Sommer 1989 folgendermaßen manifestiert wurde: "Sie sammelte die meisten Altstoffe und verdient hierfür ein Lob!". Vielleicht war es auch nur der erste von vielen Splins, wie sie sich in den zeitlosen Sommern der Kindheit ausprägen können. Vielleicht war es die kulturelle Dynamik, die von dem Milli-Vanilli-Poster in dem Kabuff hinter dem elterlichen Geschäft, oder von der Depeche-Mode-Kassette des älteren Bruders ausging. Vielleicht war es die Erinnerung an Bitterfeld. Oder ich war von dem Genuss von zu viel Kinderschokolade, Milchschnitte, Raider, Mars Incorporated et al schlechtweg überzuckert, denn ich hatte für einen kurzen Moment das Bedürfnis, einen kleinen Ort sauberer zu machen.
In meiner Erinnerung sehe ich mich mit Freunden in einem Park stehen und eine Müllsammelaktion planen. Ob wir es tatsächlich taten, weiß ich nicht mehr, denn ich sehe uns nur stehen und nur das eine Mal.
Das hätte es sein können: das lebenslange Hobby, welches in Filmen nur orange-gekleidete Sträflinge ausüben, aber die erste Zeile im Lebenslauf unter "Gesellschaftliches Engagement" hätte füllen können. Doch das war es nicht, da mein Wunsch nach einer grüneren Stadt nur ein Vorwand dazu gewesen sein muss, ein geliebtes Objekt zu befreien: die Telefonzelle auf dem Marktplatz gegenüber dem Rathaus.
Ich mag öffentliche Fernsprecher. Der Hörer hat eine angenehme Schwere. Das Freizeichen und das Wählen der Nummer haben diesen einzigartigen Sound. Der Klick, die Stimme des anderen: immer so was von Wow. Hinzu kommt das hollywoodeske Bild der Anonymität, Heimlichkeit und des Zufalls, oder die besondere Form der Privatheit in einem öffentlichen Raum, die es nie wieder geben wird, wie wir jetzt wissen. Und so, als ob ich mir gewünscht hätte, dass sich jeder von seinen schwer errungenen Heimapparaten lösen sollte, um jene Erfahrung zu sammeln, habe ich diese Telefonzelle mit einer Komplizin geputzt. Ich habe eine Telefonzelle geputzt. Ein Akt, der rückblickend an Skurrilität nicht zu übertreffen ist. Genützt hat es nichts.
Der Umgang mit den Resten des Lebens und mit den schändlichen Flecken der Stadt folgt eben nach dem Kredo der Sauberkeit und nicht nach dem Nutzen für die Natur. Die Beziehung spiegelt sich auch in der Oberfläche all der regenbogenfarbenen Beutel unter der Spüle wider, und in all jenen reißfesten und parfümierten Säcken in Containern mit Citrusduft. Nur beim Akt der vornehmlich psychologisch effektvollen Mülltrennung gewinnt letzteres kurz die Oberhand, auf der man sich gerne ausruht. Ebenso wie die früheren gesellschaftlichen Defizite – wenig Geld für Konsum, das neurotische Abdrehen der Dusche beim Einseifen, kein Führerschein, kein Auto, wenig Reisen, Thermoskanne statt Starbucks – heute zur Profilierung einer CO2-neutralen Existenz dienen können.
Einige Jahre später sollte in einem Praktikumszeugnis folgender Satz stehen: "Hervorheben möchte ich ihren ausgeprägten Sinn für ökologische Fragen, die besonders der Ausrichtung unserer neuen Agentur entgegenkam". Doch an der Telefonzelle kann es nicht gelegen haben.
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