Wie wäre es, nur noch ein Jahr zu leben zu haben? Ohne an einer Krankheit zu leiden, ohne Hoffnung auf nur eine einzige Stunde mehr? Die durchschnittliche Lebenserwartung kann einem fälschlich vorgaukeln, noch zig Jahre vor sich zu haben. Die Annahme, es sei nur ein einziges, weckt auf aus einer trügerischen Sicherheit. Zugleich lässt sie anders als der dem Philosophen Seneca folgende Leitspruch “Lebe jeden Tag, als sei es dein letzter” genügend Zeit, noch einige größere Unterfangen in Angriff zu nehmen. Was kann und möchte man in diesem begrenzten Zeitraum noch erleben? Welche Ziele sich noch stecken? Was bleibt unerreicht?
Der Künstler Erik Niedling lebte vom 1.3.2011 bis zum 29.2.2012 einem von Ingo Niermann entworfenen Drill folgend ein Jahr lang, als sei es sein letztes. Hatte er sich in seinem bisherigen künstlerischen Werk als Fotograf und Archivar von anderen Erbautem, Gepflanztem und Fotografiertem zurückgenommen, widmete er sich nun ganz seinem eigenen, am 18.10.1973 begonnenen Leben und dessen Relikten. Besonderes Augenmerk lag auf einer Nacht in den späten 1990er Jahren, in der er in seiner Heimatstadt Erfurt an einer Reihe physischer und psychischer Ausschreitungen beteiligt war und nach der sein Entschluss fiel, Künstler zu werden.
Die innerhalb des Letzten Jahres konzipierte Ausstellung 18.10.1973 – 29.2.2012 zeigt den Entwurf von Niedlings Grabkammer, der der Grundriss des Neuen Museum Weimar zugrundeliegt. Ein Rundgang durch die außen gelegenen Galerien thematisiert seine Lebens- und Werkstationen von Geburt an. Wie Niedlings bisherige Arbeiten thematisiert auch sein Letztes Jahr das Verschwinden – diesmal das eigene und das der eigenen Werke. Niedling erfährt sich dabei nicht als ein Opfer der Evolution, sondern als ein Eigner im Stirner’schen Sinne, der sich spielerisch in sein Sterben einübt und über den Tod hinaus über sein Werk verfügt.
Neues Museum Weimar24. Juni 2012 bis 5. August 2012
Eröffnung Sa., 23. Juni 2012, 19 Uhr, mit anschließender Feier.
Anläßlich der Ausstellung erscheint bei Sternberg Press The Future of Art: A Diary, 256 Seiten, 146 s/w-Fotos, mit Texten von Tom McCarthy, Erik Niedling, Ingo Niermann und Amy Patton.
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