22 May 2013

Frankfurt ist überall

von Vincent Schmidt, Bangkok 2005

Als ich Vincent 2005 kennengelernt habe, war er gar nicht da. Er existierte nur in der Rede von jemanden. Ein Umstand, der sich häufig wiederholen sollte. Die Abwesenheit wurde zur Normalität. Manchmal hätte man glauben können, es gebe ihn gar nicht. Doch irgendwann kommt jeder von einer Reise zurück.
Ich habe mit Vincent bereits über Ost-Timor, Somaliland, Irakisch-Kurdistan und Pakistan gesprochen. Nun habe ich ihn gebeten, ein paar Reisenotizen für Minusvisionen aus dem Archiv zu holen. "Frankfurt ist überall" ist der erste Text einer dreiteiligen Asien-Serie.

Licht an. Zuerst der Blick auf die Uhr, kurz nach fünf in der Früh, dann durchs Zimmer. Beigetöne deuten an, dass sie einmal weiß waren, das Holz des Schreibtisches scheint einst dunkler und in seiner Farbigkeit intensiver gewesen zu sein. Wenn ich barfuß eine Weile über den Teppich laufe, sind meine Fußsohlen schwarz. Das "Asia Hotel" ist verblichener Luxus. Die Einrichtung erzählt von einer Zeit, die längst vergangen ist. Schreibtisch, Kommode, Wandschrank, Kingsize-Bett, zwei Ledersessel um einen niedrigen Holztisch – alles in diesem Zimmer ist im gleichen Stil gefertigt, Zufälligkeiten sind ausgeschlossen. Die Harmonie zwischen Einrichtung und Raumsituation ist perfekt. Für jedes Möbelstück scheint nur ein einzig denkbarer Aufstellungsplatz zu existieren.

Gerade schiebt jemand ein druckfrisches Exemplar der "Bangkok Times" unter der Tür durch. Jeden Morgen geht das so. Englischsprachige Tageszeitung, täglich ein frischer Obstteller, Kofferträger, Concierge und hauseigener Chauffeurdienst. Der Service ist nicht verblichen. Vor der verfallenden Kulisse wirkt das Personal wie reinste Staffage. Tragödie oder Komödie? Früher war dieses Hotel eine der ersten Adressen der Stadt, denke ich. Früher ist etwa zwanzig Jahre her. Reisen nach Südostasien waren noch abenteuerlich und Bangkok war noch nicht der obligatorische Zwischenstopp junger Europäer auf dem Weg zum unterbezahlten Obstpflücken in der australischen Pampa. Um Lebenserfahrung zu sammeln, wie es heißt, den Horizont zu erweitern, endlich mal was von der Welt sehen: Your Qantas flight to Sydney is now ready for boarding at gate thirty-two.

Auch in der fünften Nacht hat mein Körper die Zeitverschiebung noch nicht überwunden. Ich überbrücke die Schlaflosigkeit mit fernsehen. Deutsche-Welle-TV zeigt einen ausgedehnten Beitrag zur Frankfurter Buchmesse. Vor dem Hintergrund einer Messehalle sind zwei Personen vis-à-vis in schwarzen Ledersesseln platziert, der Moderator im Gespräch mit einem deutschen Verleger, einem sogenannten Urgestein der Branche:

"Literatur ist für Sie gleichermaßen Job wie Lebensinhalt. Wie sieht Ihr Tag aus?"

"Nach dem Aufstehen lese ich als erstes ein Gedicht, und zwar noch vor der Tageszeitung. Das ist wichtig, wissen Sie. Jeder sollte das tun. Im Laufe des Morgens lese ich dann einen ersten Roman. Nachmittags im Büro nehme ich mir ein Sachbuch vor, zur Abwechslung. Sobald ich abends zu Hause bin, lese ich einen zweiten und dritten Roman.

"Und das Tag für Tag?", fragt der Moderator, unsicher ob er die Ironie überhört hat. Ernst kann das nicht gemeint sein. Ist es aber: "Ja, jeden Tag", antwortet der deutsche Verleger wie selbstverständlich.

"Literatur ist überaus wichtig. Sie ist das Zentralste aller Kulturgüter. Schriftsteller sind die Chronisten ihrer Zeit. Wer diese Welt noch nachvollziehen will, muss lesen. Alle sollten so viel lesen wie ich. Hauptsache mehr lesen. Schon Kinder müssen mehr lesen", kommt er jetzt richtig in Fahrt, doch der Moderator wechselt das Thema. Er fragt nach deutscher Literatur, in der ein präzises Bild der Gegenwart dieses Landes gezeichnet werde. Nun geht es also um Deutschland. Darum geht es bei Deutsche-Welle-TV immer. Imagebildend soll das Programm sein, Werbung für Deutschland, jederzeit, weltweit. Außer zur Überbrückung von Schlaflosigkeit in fernen Hotelzimmern gibt es kaum Gründe, diesen Sender zu schauen.

"Ich möchte hier vor allem einen Schriftsteller nennen, der außergewöhnlich präzise die Realitäten dieses Landes literarisch verarbeitet." Er nennt einen Autor seines Hauses.

Der beiderseitige Selbstzweck dieses Interviews steigert sich ins Unerträgliche. Der Sender wirbt für Deutschland, der deutsche Verleger für seine Autoren. Ich schalte den Ton stumm und greife mir die "Bangkok Times". Die Zeitung schreibt über Gefechte zwischen Armee und Rebellen im Süden des Landes. Als ich meinen Blick wieder dem Fernseher zuwende, endet gerade der halbstündige Nachrichtenüberblick, die nächste Sendung beginnt. Wieder Buchmesse, wieder der Moderator im Gespräch mit dem deutschen Verleger. Nun aber auf Englisch. Die Buchmesse heißt nun "book fair". Die Frage nach den Lesegewohnheiten des Verlegers wird ausgespart. Offensichtlich entspricht sein Leseverhalten nicht dem Deutschen-Bild, das der Sender in die Welt transportieren möchte. Stattdessen wird das Renommee dieser deutschen Buchmesse diskutiert. Wieder geht es also um Deutschland. Die Frage nach den deutschen Autoren wird modifiziert. Ob der Verleger deutsche Autoren nennen könne, die ein präzises Bild der Gegenwart Deutschlands zeichneten und in englischer Übersetzung erhältlich seien. Er nennt wieder den Autor seines Hauses, dessen sehr deutscher Name bei englischsprachigen Zuschauern vor allem Klischees bedienen wird. Ich schalte das Gerät ab.


"Traffic is problem" sagt der Taxifahrer entschuldigend. Ich bin auf dem Weg zur "Queen’s Gallery" im Stadtteil Banglamphu. In den letzten zehn Minuten sind wir kaum zweihundert Meter vorangekommen. Tagsüber sind die Straßen Bangkoks hoffnungslos überlastet und im Grunde unbenutzbar. Bei tropischen Temperaturen und enormer Luftfeuchtigkeit wollen sich die Menschen so wenig wie möglich bewegen. Kilometerweit von meinem Ziel entfernt, steige ich nördlich des Siam Square entnervt aus, um auf eine der unkonventionellsten, aber effektivsten Alternativen zum Straßenverkehr zu wechseln, den Abwasserkanal, der Kloake Bangkoks. Der enge Kanal schlägt zwischen Wohnbaracken eine Schneise durch die Stadt, bis er schließlich im lehmig-gelben Wasser des Chao-Phraya-Stroms mündet. Auf dem Kanal verkehren alle paar Minuten längliche Holzboote. Die Anlegestelle ist ein für Ortsfremde kaum wahrnehmbarer improvisierter Steg unterhalb einer Brücke. Kein Hinweisschild, kein Fahrplan. Außer einer Handvoll wartender Thais deutet nichts auf eine Anlegestelle hin. Der Gestank der Kloake ist gewaltig. Die Ankunft des Bootes nimmt man zuerst über das Gehör wahr. Mit einem lauten Knattern rauscht der motorbetriebene Holzkahn heran, hält kurz am Steg, Menschen klettern hinaus, die Wartenden springen hinein. Wenige Sekunden nur dauert der Stopp. Im Bootsinneren sitze ich als einziger Ausländer dicht gedrängt zwischen Schulkindern, jungen Frauen und Männern in Anzug und einigen wenigen in Freizeitkleidung. Nach dem Ablegen ziehen zwei jugendliche Skipper mit Sturzhelmen zu beiden Seiten des Bootes eine Plastikplane hoch, um die Insassen vor hoch spritzendem Abwasser zu schützen. Die Fahrt ist schnell und ohrenbetäubend. Der Fahrtwind vertreibt dankenswerterweise den Gestank. Nach fünf Minuten erreiche ich mein Ziel am anderen Ende der Stadt.

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