26 March 2013

Über Null

1100. Das könnte der Versuch sein, den Notruf zu wählen, wobei man sich beim Tippen der ersten Null plötzlich zum bewussten Verwählen entscheidet und den Hörer auflegt, da der Softballschläger in Erinnerung gerufen wurd. 1100 ist hier ebenfalls kein Binärcodesabschnitt, sondern die Forderung von Hannah Horvath in der Serie "Girls", die sie in der ersten Folge an ihre Eltern stellt. 1100 sind 1.100 Dollar. Der geforderte Betrag, monatlich ausgezahlt, soll, so ihr Wunsch, sie die nächsten zwei Jahre über die Runden bringen. 1.100 Dollar sind das viel zu geringe Maße der Dinge, dessen frotzelige Bescheidenheit dennoch einen entscheidenden Wert birgt: Freiraum für die Arbeit am eigenen Buch und am Ich, was so viel bedeutet wie unangepasst bleiben und nach Bushwick fahren, so lange es noch geht, sagt man sich. Es ist die Abkehr von der Lohnarbeit und somit von der Portier-, Post-, Patentamt-, und Prokuristen-, oder etwas moderner, Coffeeshop-Agentur-Romantik, die auch nur in die Idiotie des Feierabends führt. Die Bitte wird abgeschmettert.

1.100 Dollar sind 1.100 Euro. Der Betrag, die Freiheitshoffnung jener fiktiven Hannah, wird in eine europäische Realität geholt. Denn die auf einem Kontoauszug auftauchende schwarzgeschriebene Ziffernfolge ermöglicht es hierzulande, all jenen Twenty- und Thirtysomethings den Balanceakt zwischen minimaler gesellschaftlicher Verpflichtung und dem Ausleben individueller Strebungen zu wagen, auch wenn es sich um keine elterliche Spende, sondern um das Ergebnis einer oder mehrerer ausgeübter Tätigkeiten handelt, die viel von dem Gut schlechthin - Zeit - übriglassen und die Möglichkeit, diese zu nutzen. Ganz im Gegenteil zu all jenen, die mit Vollzeitjobs weitaus weniger auf dem Zeit- und Geldkonto haben. Das wissen wir und loben die staubfrei geschriebene, leicht zu ovale Null, die nach Miete, Nebenkosten, Sozialabgaben, dem Kauf von Nahrungs-, Genuss- und Kulturmitteln, Steuervor- und Bafögrückzahlungen deutlich macht, dass die Beschreibung des Selbstverwirklichungsmilieus in der Sozialpsychologievorlesung als Lebensentwurf verinnerlicht und nicht als Diagnose erkannt wurde.

Abseits der Ärzte, Juristen, Hochschullehrer, Unternehmer und Angestellten dümpeln die Kulturwasauchimmer in einem klebrigen Sumpf zwischen Ich-und Projektpflege herum, der einen Sog nach unten entwickeln kann, und das vor Freiheit strotzende Homeoffice zum Wartesaal wird, wenn die 1100 her muss, aber auch die Promotion, das neue Album, die neue Ausgabe des Magazins, das neue Bild, das neue Video der neuen Reihe, die neue Ausstellung, das neue Buch, die neuen Artikel, das neue Buch und der neue geistreiche, viel gelobte, gelikte, beförderte Eintrag auf Facebook gestern hätte fertig sein sollen und man sich vor dem gleichzeitigen Ablauf von dreißig Deadlines dann doch nur an einer Hoffnung versprechenden, imaginierten Bar wiederfindet - mit Bier, Wein, Prosecco, Gimlet oder Negroni in der Hand. Denn dort stehen sie.

Der selbst gewählte Freiraum ist ein zwielichtiges Zwischenland in dem die Temperatur stets schwankt, weil man hin und wieder, kurz vor dem Einschlafen, wenn sich die am morgen vergessene Schwere auf dem Gemüt breit macht, die geliebte Flexibilität, das Dasein eines Taugenichts, gegen die sonst so verhasste Stabilität eintauschen will, nur um sich für einen kurzen Moment vorzugaukeln, dass man dann gewappnet sei, um den vielen schrecklichen Anrufen zu begegnen, um Mutter, Vater oder noch die Eltern finanziell zu unterstützen, um bei Krankheit, die da kommen wird, schnell und richtig handeln zu können, um ein Soll zu erfüllen, um auf eine Party nicht mehr mit einem mehrstündigem Vortrag zum Thema Nein zu scheitern, um große dicke Haken zu setzen, weil es eine Timeline befielt.

Bevor sich der Kopf dem Schlaf ergibt und der Körper wieder mit Wärme gefüllt ist, erkennt man: das ist völliger Quatsch.

Aktueller Kontostand: etwas über Null.

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