22 April 2020

Eitelkeit ist eine Strategie

Skype, WhatsApp, Zoom – oder doch einen anderen Anbieter wählen? Sofern das Gesicht als das oberflächliche Identitäts-Billboard mal ohne Mund- und Nasenschutz gefordert wird, scheint das in Pandemiezeiten mit Kontaktverbot die Frage der Stunde zu sein, die neben dem steten Grübeln über den Datenschutz – flankiert durch die paranoide Frage, ob die Videoüberwachung nun von außen nach innen gewandert sei – zu Überlegungen wie diesen führt: Ziehe ich mich an? Was ziehe ich an? Business, Smart Casual, zum Spaß Black Tie oder Abendrobe? Muss ich mich für die nächste Schalte schminken – gar die Haare machen? Und vor allem: Wo stelle ich den Computer auf? Auf den Schreibtisch – mit oder ohne überlegt vollgestopftes Regal im Hintergrund? Küche? Balkon? Wohnzimmer? Was, wenn der Wohnraum lediglich aus einem Zimmer besteht? Ist dieses schrecklich unaufgeräumt, zeichne ich dann lieber den Hintergrund weich oder wähle ich aus einer Vorlage?

Während mehrmals am Tag mit tiefen Skepsisfalten auf der Stirn die Aufkleber von den Kameras geknibbelt werden, die eigenen Zeichen genauestens verwaltet und die empfangenen wie eh und je dekonstruiert werden, und einige Köpfe den finalen Siegeszug der Videotelefonie zu beobachten scheinen, weiß die Literatur wie immer mehr. So beschreibt David Foster Wallace in Unendlicher Spaß auf mehreren Seiten durch Eitelkeit beförderten "Videophoniestress", der für einen Boom von Videophonmasken und digitalen Tableaus sorgt, die schließlich zum Niedergang der Technik führen. In seiner Fiktion wird nicht gefragt "Was geschieht mit meinem Bild", sondern "Wie komme ich an?". Eitelkeit fördert eine Identitätstravestie, Gesicht- und Körper-Variationen werden nach Belieben an- und abgelegt, wie es einige Filterfunktionen außerhalb der Literaturen längst können.

"Im vorliegenden Fall führte die Evolution der Stress- und Eitelkeitskompensationen dazu, dass Videophonnutzer zunächst ihre eigenen Gesichter ablehnten, dann sogar ihre bis zur Unkenntlichkeit maskierten und digital bearbeiteten Ebenbilder und schließlich die Videokameras in toto abdeckten und den TPs ihrer Gesprächspartner nur noch attraktiv gestylte statische Tableaus übermittelten. Hinter diesen Objektschutzdioramen und gesendeten Tableaus waren die Teilnehmer plötzlich wieder stressfrei unsichtbar, hinter den Star-Dioramen konnte man wieder eitelkeitsfrei ungeschminkt, toupetlos und tränensackverschandelt sein, man hatte – da wieder unsichtbar – die Freiheit zum Kritzeln, Pickelprüfen, Maniküren und Faltenchecken zurückgewonnen […]."

Unsichtbar, da steht es, ein – wie "systemrelevant" oder wenigstens "normal" – lange nicht mehr ausgesprochener, unerreichter Zustand, der durch Mund- und Nasenschutz, denn plötzlich wird dieser fester gezurrt und das Ablegen verweigert, die Gedanken kitzelt, wenn schon Smartphone und Computer nicht mehr abgeschaltet werden können.

5 March 2019

Dylan McKay

Der Kontrast hätte für mich nicht größer sein können: Ich, zehn Jahre alt, in Bluejeans, ein verwaschenes, einst weißes, Discount-Shirt mit einer Zeichnung von Keith Haring darauf tragend, in der fünften Klasse in einer dieser maroden Karl-Marx-Sekundarschulen sitzend, die aufgrund eines Umzugs jene Ho-Chi-Minh-Schule für zwei Jahre ablösen sollte, bevor ich auf ein Gymnasium wechseln würde, da ich die letzten guten Noten meiner Schullaufbahn in einer Ledertasche trug, und die für mich merkwürdige Welt der Serie Beverly Hills 90210, die erstmals im Juli 1992 in Deutschland ausgestrahlt wurde. Es gab samstags also eine Möglichkeit der Flucht, weit weg von dem Post-Wende-Alltag, der für die Eltern so schwer schien. Rein in lichtdurchflutete Klassenzimmer und Flure mit Bücherspinden, auf deren polierten Böden reiche, weiße, junge Menschen mit Nose Jobs flanierten. "It's funny, and a little melancholy, to think of 90210 that way, because for me, as a kid, it was the white-hot touchstone of modernity—a glimpse into a fabulous world far beyond all that I knew", erinnert sich Richard Lawson für Vanity Fair.

Obwohl ich eine zeitlang die Figur der Brenda zum Vorbild erkoren hatte, wäre mir die Sendung, bis auf die Inception fragwürdiger – damals völlig okayen – Rollen- und Körperbilder, ohne die Figur des Dylan McKay nicht bewusst in Erinnerung geblieben, der die Serie rückblickend erst erträglich gemacht hatte: der coole Loner im Sportwagen, der zwar auch reich war, aber ziemlich ungücklich schien. Die Killer-Kombination.

Das mich prägende Narrativ – um nicht Klischee zu sagen –, das in Dylan McKay steckte, wurde mir kurze Zeit später bewusst, als die Grenze zum Alltag nicht mehr nur mit aktuellen US-Serien gesetzt wurde, sondern mit klassischem Hollywood-Kino (und später Literatur). Da war Paul Newman als der verletzte, alkololkranke Brick Pollitt in Die Katze auf dem heißen Blechdach, der real alkoholkranke Montgomery Clift in Ein Platz an der Sonne oder in The Big Lift oder eben James Dean in seinen drei Filmen. Charaktere: gebrochen, unsicher, manchmal physisch schwach, die gemäß Diederichsen eine visuelle, verdinglichte positive Idee der Schwäche, des Mangels und des Unvollkommenen in die zeitgenössische Kultur gebracht hatten, die eine Aura des Wahren implizierten. Die schwachen Stimmen im Pop ihr musikalisches Pendant.

Das wollte man sein: cool, unperfekt, was den Männern vorbehalten schien, bis ich Winona Ryder und später auch Bildung fand.

Und so sind die Nachrufe auf Luke Perry (1966–2019) nicht nur geprägt von den Erinnerungen an seine Rolle in Beverly Hills 90210, sondern auch an die Idee des schönen Brüchigen, des sanften bis rebellischen Anderen – das damals durch River Phoenix und Kurt Cobain kurzzeitig Vollendung fand –, das diesen grellen und potenten Serien-Figuren an die Seite gestellt wurde – ein zarter Hauch von Widerstand, wenn auch versteckt hinter Haarspraynebel: "For Generation X, it was Dylan McKay. Perry was so instantly cool and magnetic in the role that he transformed what had seemed an earnest culture clash comedy into something more addictively melodramatic and soapy", schreibt Alan Sepinwall für Rolling Stone.

Die Erinnerung an diese Form der kulturellen Intervention kam auch jedes Mal in Riverdale zum Vorschein, wenn Luke Perry, einen Vater mimend, mit den unbeharten, aufgeblähten Teenager-Karikaturen interagierte, die gefangen sind in einer Welt, in der Stile und Zeiten so stark aufeinanderprallen, das ein unheimlicher Anachronismus entsteht, der Simon Reynolds und Mark Fisher das Fürchten lernen würde.

"I'm having major déjà vu. Remember when this was our lifes?", fragt Molly Ringwald in der Rolle von Mary Andrews in einer Szene von Riverdale ihren Ex-Mann Fred, gespielt von Luke Perry, als sie einen Schulball besuchen. "The best of times", antwortet er. Sie schmunzeln sich zu, scheinen sich mit ihren jeweiligen Rollen zu versöhnen, und der Zuschauer in der Gegenwart muss sich zur Bekenntnis zwingen: Es war einmal.

21 August 2018

The Conversation

1974 erschien The Conversation (dt. Der Dialog) von Francis Ford Coppola. In der Hauptrolle Gene Hackman als Überwachungsspezialist Harry Caul. Er hat den Auftrag, ein Paar zu observieren, das sich jeden Tag zur selben Zeit auf dem Union Square in San Francisco trifft. Caul soll die Unterhaltung der beiden aufzeichnen. Es gelingt ihm, und er kann sogar eine entscheidende Passage von Störgeräuschen befreien: "He’d kill us if he got the chance" ist zu hören. Caul verstrickt sich in die Ahnung, dass sein Auftraggeber die Observierten umbringen möchte und erkennt erst spät, dass es die Überwachten sind, die ein Mordkomplott gegen diesen planen. Eine Erkenntnis, die ihn selbst zum Überwachten werden lässt.

"We'll be listening", sagt eine Stimme, der Assistent des Auftraggebers, am Telefon zu Caul, der zuvor noch Saxophon spielend im Erker saß. Darauf durchsucht Caul seine vier Wände, durchwühlt Regale, überprüft Lampen, Steckdosen, Vorhänge – alles. In seinem Wahn reißt er sogar die Tapeten von den Wänden, hebelt die Dielen auf. In der letzten Sequenz sitzt er schließlich in seinem zerstörten Appartement und spielt wieder Saxophon – seinen Blues for Harry. Ob er die Wanze gefunden hat, bleibt offen. Irgendwo lauert vielleicht jemand mit einem Richtmikrofon. Der Zuschauer weiß es nicht. Harry Caul weiß es nicht.

Harry Caul hat seine Wohnung zerhackt, weil ihn jemand abhört. Niemand will bespitzelt werden. Selbst wenn nur die Gespräche in der Nachbarwohnung zu laut werden, wechselt man beschämt das Zimmer, weil die Misere schon nach drei wage verstandenen Sätzen zu deutlich ins Bild gebracht wurde. Abhören ist etwas schlechtes, das selbst im Polizeieinsatz im Zwielicht bleibt.

Am Nachmittag wird ein Buch auf dem Nebentisch in der Eisdiele entdeckt, das Gründe liefert, sämtliche Social-Media-Accounts zu löschen, ohne seine Wohnung zu zerstören. (Dennoch: "Was gibt es neues auf Netflix?" Und während des Films: "Muss ich kurz googeln".) Ich stimme Nutzungsbedingungen zu und verliere, Bürgerrechte. Jemand spricht in mein Ohr über ein altes Nokia-Telefon, denn es müsse auf ein Smartphone verzichtet werden. Schon zu oft seien die abendlichen Gesprächsthemen in der Küche am nächsten Tag in der Nachrichten-App auf Platz eins aufgetaucht. Und wieso geht der Fernseher manchmal einfach an.

Dielen, Tapeten, alles ist noch an seinem Platz. Die Lampen hängen noch. Die Steckdosen sind weiterhin intakt. Das Geschirr ist ganz. Die Vase leer. Das Handy blinkt im Nebenraum. Überall nur etwas zu viel Staub. Wespen summen.

Mein Facebook-Ordner (erstellt am 27. April 218) umfasst 107,2 MB. Geht doch noch, denke ich. Das sind 10,5 Jahre.

25 July 2018

Neue Gebiete

Eigentlich läuft es. Ja, es läuft. Damit meinte Ida die kleine Rechnung in ihrem Kopf. Es gibt keinen Grund sich zu beschweren, ermahnte sie sich. Das ist doch gut.

„So eine Scheiße“, murmelte sie plötzlich vor sich hin, als sie erneut drei Zeilen aus einem Textdokument gelöscht hatte. Vor ihr war jetzt wieder zu sehen: eine weiße, leere Seite. „60 Minuten für nichts“, sagte sie kopfschüttelnd. Ein Verlustgeschäft. Ermüdet klappte sie den Laptop zu und fiel schlaff in den Stuhl. Sie kapitulierte. Ihre Kaffeetasse hielt einen kalten, krümeligen Schluck bereit.

Es sollte ein Beitrag über die Schließung einer Erinnerungsstätte in Bochum werden. Das hatte sie Andreas von Your Daily Content versprochen, der es irgendwie bringen wollte. „Komm, die paar Euro tun euch nicht weh“, betonte sie. Doch das Thema hatte eigentlich keine Aussicht auf Erfolg. Nachdem Teile der Region „aus bisher unbekannten Gründen“, wie es überall hieß, versackt waren, und die Spekulationen über eingebrochene Stollen und explodierte Weltkriegsbomben keinen mehr interessierten, wurde selten aus Ruhrstadt berichtet. „Zu depressiv. Können wir nicht machen“, hieß es eigentlich immer. „Klickt keiner“, wäre die richtige und ehrliche Antwort gewesen. „Keine Reichweite, zu lokal“, auch eine Möglichkeit. Sie machte es trotzdem und stellte sich ein großes Loch vor, an dessen Rändern sich die Menschen, Tiere und Pflanzen neu eingerichtet haben und auf ewig hinabstarren – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Sie kippelte auf ihrem grauen Kunststoffstuhl hin und her, und sammelte die abgekauten Fingernägel rechts neben dem Laptop. Die seit Monaten gleich bleibende Sonne schien gelblich in ihr Zimmer und provozierte einen kurzen Blick aus dem sonst mit Decken verhangenen Fenster.

500 Kilometer westlich schloss Karin eine Werkhalle auf. Über dem Eingang thronte ein Logo aus Kreis und Blitz, das sie stets mit einem respektvoll nostalgischen Blick die Ehre erwies. „Opel Bochum – Eine Erinnerungsstätte für das 20. Jahrhundert“. Das gaben die hysterisch flackernden Leuchtbuchstaben nur noch selten her. Es folgte, wie jeden Tag, ein Kontrollgang über den dazugehörigen Parkplatz. Das war’s. Kasse und Eintrittskarten holte sie nicht mehr heraus. Die Texte für ihre Führungen vergaß sie langsam.

An einem Tag hörte Karin nach Jahren wieder eine Stimme nach ihr rufen. Ida stand am Eingang und schaute sich um. Die Luft war ausgesprochen gut, dachte Ida, so wie es in alten Reiseführer stand. Als sie ihre Schuhe inspizierte, neue Novembersandalen, bewegte sich plötzlich etwas im Grün. Doch Ida konzentrierte sich so stark auf Karin, die ihr mit einer Taschenlampe entgegenkam.
„Ida Gloger. Wir hatten telefoniert.“
„Haben sie den Weg gut gefunden?“
„Ja, ich bin auf den ausgeschilderten Sonderrouten geblieben.“
„Weswegen sind Sie hier?“, versuchte Karin das Thema zu wechseln.
„Die Schließung Ihres Museums.“
„Erinnerungsstätte.“

Sie verließen die Halle und gingen stumm ein paar Schritte. Besucher konnten das ehemalige Werk begutachten, verschiedene Produktionsstätten ablaufen, mitmachen, dieses besondere Feeling aufbauen und wenn sie wollten, in ein Auto steigen und damit herumfahren. Früher auch noch durch die Stadt.
„Durften die selbst fahren?“
„Ja. Wollen sie mal? Kadett, Zafira oder Astra?“

Ohne zu überlegen, zeigte Ida auf einen roten Opel Kadett B Coupé. Karin lachte und gab Ida den rostigen Zündschlüssel mit einem Anhänger aus kleinen, gestapelten Miniaturreifen, der an ein Kunstwerk von Allan Kaprow erinnern sollte. Kaprow hatte 1979 einen 15 Meter hohen Turm in Form eines monumentalen Schaltknüppels aus alten Autoreifen für die 6. Kunstwoche des Ruhrpark Shopping Centers konzipiert, wurde ihr erklärt. „Nach seiner Errichtung von Unbekannten abgefackelt, einfach so“, beendete Karin den Exkurs.

Während der Fahrt lachten beide überraschend viel. „Auto fahren“, schüttelte Ida den Kopf, als sie vergnügt ihre Runden drehten.
„Und was wollen Sie machen, wenn das hier abgerissen wird?“
„Keine Ahnung. Sie verdienen doch mit Schreiben ihr Geld?“

„Ja“, antwortete Ida.
„Das geht?“

Das war die übliche Reaktion. Denn sie hatte nur einen Roman im Self-Publishing herausgebracht und einige wenige Reportagen an die letzten Zeitungen verscherbeln können. Der Rest bestand aus sogenannten Inhalten, die oft mit Lebensmittelgutscheinen vergütet wurden. Miete und anderes berappte sie mit Jobs. Jeder weiß, was damit gemeint ist.
„Es sind Texte zu avantgardistisch strukturierten Wattepads, einer Hämorrhoidencreme mit neuem Duft, blöden Digital Pens und Bedienungsanleitungen zu diesem Self-Tracking-Kram“, gab sie Karin einen Einblick.

„Soll ich Ihnen etwas zeigen?“, fragte Karin, nachdem das Auto wieder abgestellt war. Ida nickte und knibbelte nervös an ihrer Nagelhaut. Als sie zurück in der Halle waren und das Oberlicht angeschaltet wurde, erkannte sie, dass die Innenwände akkurat mit Nummern und Datumsangaben beschrieben waren.
„Das sind Ölpreise. Seit 1973.“
„Wie lange arbeiten Sie schon daran?“
„Der letzte Besucher kam vor fünf Jahren.“
„Doch ein Archiv.“

Vor ihrer Abfahrt wanderte Ida durch einige „Belebte Zonen“. Hin und wieder zückte sie ihr Smartphone, machte Bilder. Eine Anwendung legte alte Aufnahmen wie eine Folie über ihre. „Heute“. Ein Fingerwisch. „Damals“.

An einer Absperrung blieb sie zunächst stehen. „Vorsicht Raubkatzen“, mahnte ein Schild. Sie runzelte die Stirn und ging weiter in Richtung einer Aussichtsplattform. Ihr Herz schlug schneller als sie in ein großes Loch hinabblickte. Für einen Moment glaubte sie, Lichter tief unten in der Erde zu erblicken. Blickende Lichter, flackernde Lichter, leuchtende Buchstaben. Hörte sie Stimmen? Sie sprach leise, sich lebst fragend, vor sich hin, blickte auf und meinte am gegenüberliegenden Rand des Kraters einen Löwen sitzen zu sehen.

28 May 2018

Im März war das Wetter schlechter

Sie haben geredet. Daniel Kehlmann und Salman Rushdie. Davon zeugt ein Interview. Sie haben geredet. Über ihre Arbeit als Schriftsteller, die gegenseitige Anerkennung und Freundschaft, sowie über ihr Leben in New York. Ich spüre ein Ziehen in der rechten Brust und ein Schmerz auf Hüfthöhe. Zwei Telefonate. Die Sonne ist ein Witz. Auf dem Cover des SZ-Magazins sind beide Autoren wie Vater und Sohn abgebildet. "Schreiben ist das Härteste, was ich je unternommen habe", steht da noch.

Ich sitze an meinem Sweat Desk und habe zwanzig Euro mit einer Rezension verdient. Mein monatlicher Mietanteil beträgt 300 Euro. Jenseits von New York höre ich meinen Nachbarn husten. Ich friere in meinem Bad. Doch der Wasserdruck ist gut.

"In größeren Städten wie Manhattan kann man nicht mehr auf interessante Weise arm sein", schreibt Chris Kraus in ihrem Roman Torpor und meint die Neunzigerjahre. Kehlmann redet von New York in den Siebzigerjahren und meint Berlin. Die Gegenwart. Die Geschichten zu beliebten Fotos, auf denen heruntergekommene Altbauwohnungen und Räume in Brown Stones zu sehen sind, wirken nur aus weiter Ferne oder auf Buchumschlägen schön. Sonst war man einfach sehr arm. Eh vorbei. Großstadt.

Containerpark jetzt.

Ich erhalte eine Nachricht aus Köln. "Warte seit hundert Jahren auf mein Geld aus München. In dieser Notsituation habe ich deinen Rewe-Gutschein gefunden. Mega Rettung. Danke. Großartig." Deutschlands Künstler. Ich antworte: "Leider weiß ich nicht mehr, wie viel Geld drauf ist. Mindestens zehn". Es waren 15 Euro. Woher kommen die Schmerzen?

Das Interview verliert mich weiter und ich bereite meinen Stimmzettel für die Oscar-Verleihung vor. Greta Gerwig erhält von mir den Preis für das beste Originaldrehbuch. Einfach so. Dabei denke ich an einen Dialog aus Frances Ha, in dem sie vor ein paar Jahren die Hauptrolle gespielt hat: "So what do you do?", wird Frances, die als Tänzerin scheitert und ihre Wohnung in New York verloren hat, von einem gewissen Andy gefragt. "Eh... It's kinda hard to explain", entgegnet sie. "Because what you do is so complicated?", insistiert Andy weiter. Darauf Frances: "Eh… Because I don't really do it".

Ich bin gar keine Autorin.

Ende der Sechzigerjahre schreibt Joan Didion: "Ich erinnere mich an eine Zeit, in der die Hunde Nacht für Nacht bellten und immer Vollmond war". Sie erinnert sich an ein "großes Zittern", an eine "strudelartige Spannung", die sich in Los Angeles ausgebreitet hatte wie eine bedrohliche Dämmerung, die das Ende des letzten Tages ankündigt. Es ist die Zeit kurz vor den Morden im Haus der Schauspielerin Sharon Tate durch Mitglieder der Manson Family. "Ich erinnere mich daran, daß niemand überrascht war", kommentiert sie die anschließenden Reaktionen auf die Tat vom 9. August 1969. Der Abgrund als Gewohnheit bei Katastrophenwetter. "Erdbebenwetter", laut Raymond Chandler. "Ich erinnere mich daran, daß niemand überrascht war", denke ich die ganze Zeit, auch als Kehlmann und Rushdie nach der Metoo-Debatte in der Literaturszene gefragt werden.

Greta Gerwig bekommt keinen Oscar. Die Kleider auf dem Red Carpet sind bunt.

In der Woche darauf verdiene ich 210 Euro. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche und verhungere nicht.

"Ich arbeite an etwas", kann ich nur noch bis 40 sagen, ohne die Erwartung einer monatlichen Ausschüttungen oder ein baldiges Erbe. In der Zukunft haben ich ein Problem, wie ich es in vielen Artikeln auf Spiegel Online gelesen habe. Ich sehe mich also als Frau, als Cat Lady, als Bag Lady. "Bag lady you can hurt your back", sang Erykah Badu.

Ich arbeite an etwas und unterdrücke ein Gefühl, als ein 18 Monate altes Kind für einen kurzen Augenblick mit der Wange eine Haarsträhne der Mutter berührt. Eine fast unbemerkte Geste der Zuneigung und Absicherung – liebevoll, heilend, unkritisch.

Es gab eine Zeit des Glaubens, als Tag für Tag eine Katze vor meinem Fenster hockte und um meine Aufmerksamkeit buhlte, während ich einen Film schaute, dem Pfad dieser Jungen folgte, Stand by me und ein Liter Eiscreme (Vanille, gut & günstig) und ebenso wie sie hoffte, den Umständen zu entkommen, während gleichzeitig der Wunsch nach einem Erzähler wuchs und wuchs, der sich erinnert und berichtet.
"I never gonna get out of this town am I, Gordy?."
"You can do anything you want, man."
"Yeah, sure."

16 February 2018

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 Closeup II

1000 Euro brutto, denkt sie, die Verkäuferin in Vollzeit, dort, an einer Bushaltestelle sitzend, durch die Neonbeleuchtung von der winterlichen Dunkelheit abgehoben, in den Fokus gerückt; dort, an einer von vielen Karl-Marx-Straßen.

1000 Euro brutto. Das war und ist für diese – jede – Region unterdurchschnittlich. Bis zu 2000 Euro brutto wären in dieser Stadt, um diese Karl-Marx-Straße gespannt, möglich: dank über 40 Jahren Berufserfahrung mit Leitungsposition, auch wenn in den Dokumenten zulange ‚mithelfende Ehefrau‘ stand. Das ahnt sie. Sorge und Angst überwiegen. (Dank der großen Witwenrente, so kann der Leser sich beruhigen, sind es wieder – immerhin – 1000 Euro netto und davon, die Erfahrung bezeugt es, kann sie neben Miete, Nebenkosten und Haushaltsgeld sogar das Auto abbezahlen, das ihr nach dem Tod des Mannes geblieben ist.) 1000 Euro netto.

Eine Frau an einer Bushaltestelle ruft mir etwas zu und reißt mich aus meinen eigenen Gedanken, in denen ich beim Blick auf die Straße – durch Frost und Nieselregen in ein Kleid aus Perlmutt, oder besser: in ein glitzerndes Universum verwandelt; die Unendlichkeit zu Füßen – verloren war. „I’m a connoisseur of roads“, fällt mir ein. „I’ve been tasting roads my whole life. This road will never end. It probably goes all around the world.“ Ich weine beinahe.

Ich möge ihren Hund kurz ausführen. Nur ein paar Meter mehr für den Hund. Sie schaffe dies nicht mehr. Sie sei müde. Ihr Hände seien geschwollen. Und erst die Füße. Immer sind es die Füße, die schmerzen.

Der Hund, ein Havaneser, und ich blicken uns fragend an. Zögernd ergreife ich die Leine und gehe langsam los.

15 August 2017

Ich, ohne Führerschein

"Georg: Man sitzt in einer Blase und hört nichts außer diesem angenehmen Schnurren.
Inga: Wunderschön. Beruhigend. Alles Störende bleibt draußen. Gott, ist das hier häßlich.
Beide lauschen.
Inga: Das nennt sich Psychoakustik. Damit sind Tausende von deutschen Ingenieuren beschäftigt, deswegen sind die Autos auch so teuer. Und wenn dann einer kommt und sich so ein teures Auto kauft, dann will er sein neues Exoskelett natürlich auch schön ausfahren ... Deswegen gibt es auf der Autobahn keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Todesrasen ist ja nur in Deutschland erlaubt, damit alle denken, sie seien – frei.
Georg: ... ich hab Hunger."

An diesen Dialog aus Finsterworld denke ich immer öfter abseits einer Autobahn, wenn 700 PS starke Fahrzeuge in Dreißigerzonen voll ausgefahren werden und ich Angst erfüllt flach an einer Häuserwand klebe und versuche in die Schutz spendende Einbuchtung zu gelangen, die zum Eingang führt. Wenn mich das Geräusch eines heranschnellenden SUVs dazu bringt, hinter einer Hecke am Straßenrand Schutz zu suchen. Wenn ich während der Hass getriebenen Hauptverkehrszeit an einer Straßenkreuzung stehe und vor dem Überqueren noch schnell verschiedene Unfallszenarien in meinem Kopf durchspiele, um doch noch die rettende Bewegung zu eruieren, die schützende Lücke zwischen Metall und Asphalt für meinen Körper zu finden, um immer wieder zu dem bitteren Schluss zu kommen: es sieht schlecht aus. Wenn ich am Ende des Tages Fahrradfahrer mit einer goldfarbenen Schärpe ausstatte und das Absteigen applaudierend begleite. Wieder einen Tag überstanden: gemeinsam mit jenen Pkw und Motorrädern, die mit rotem Kurzzeitkennzeichnen und Gopro-Kamera ausgestattet, zur dröhnenden Höchstform auflaufen, aber auch mit all den zähnefletschenden Sport Utility Vehicles, mit denen der Stadtalltag bestritten wird, indem die Stadt und die Welt einfach ausgeklammert werden. "Alles Störende bleibt draußen", stellt Inga fest.

Und die Stadt wird eine künstliche. Das bewegte Bild von ihr fällt durch die Fenster ins Innere des Autos ein. Es ist wie Schauen im Kino, ein Effekt, der sich sonst nur einstellt, wenn du mit deinem Rotweinmagen im Fond eines Taxis liegst. Wenn Schilder oder Menschen zu sehen sind, stellen sie nur noch ein mögliches Detail in der Szenerie dar – keine Tatsache.

Ich bin die Figur rechts auf dem Trottoir. Ich habe übrigens keinen Führerschein. Ich habe mit 18 Jahren das Land gegen die Großstadt und darauf die Großstadt gegen eine Metropolenregion eingetauscht.

Ich gehe gerne. Ich fahre gerne Zug. (Ich bevorzuge die klassische Ankunft.) Bus und Taxi nur im Notfall. Ich habe eine Monatskarte und Erfahrungen: Neben den vielen ungezählten Schritten, den Anderen in ihrem Sein, der Last der Taschen und dem Hagel im Gesicht weiß nur ich, wie es ist, wenn ein Umzug auch postalisch erfolgen kann, wie es durchaus möglich war, als ich noch in möblierten Zimmern gewohnt habe. Ich kenne aber auch die Starre der Zeit an Haltestellen und auf Bahnhöfen zwischen zwei Fahrtabschnitten. (Ich denke an 30 Minuten Ewigkeit und einige qualvolle Stunden in Hamm. In solchen Momenten half Musik, Literatur und Journalismus. Und wo liest es sich schöner als in kalten Bahnhofshallen oder im Zug?) Und ja, hin und wieder muss ich Sätze ertragen wie: "Wer fährt denn jetzt? Denn die einzige Person, die noch nüchtern ist, hat keinen Führerschein."

Dann bestelle ich mir ein Glas Rotwein.